Als Sartre einmal den Verstand verlor
Nach seinem Bestseller „1913“hat Florian Illies jetzt mit den 30er-Jahren erneut die Vergangenheit unter die Lupe genommen.
DÜSSELDORF Was für eine verrückte, fast wahnsinnige, kühne und letztlich gespenstische Zeit: Die Jahre zwischen 1929 und 1939. Und mittendrin die Menschen, die trotz allem bleiben, was sie immer waren – nämlich auch einander liebende, von der Liebe berauschte und enttäuschte Menschen.
Sie vor allem hat Florian Illies in den Blick genommen mit seinem unglaublichen Panorama all der Intellektuellen, Künstlerinnen und Künstler, die in dieser Zeit lebten. „Liebe in Zeiten des Hasses“ist die Sammlung zahlloser Lebensgeschichten, die unterm Strich das ergeben sollen, was Illies die „Chronik eines Gefühls“nennt. Vergleichbares hat der 50-jährige Schriftsteller schon mit dem Buch „1913“erfolgreich unternommen: Damals begeisterte er die Leser mit seiner Detailschau auf den Vorabend des Ersten Weltkriegs. Jetzt sind die Menschen ein paar Jährchen weiter, vielleicht nicht klüger, aber doch aufgeregter. An jeder Ecke scheint etwas zu geschehen. Es beginnt im Frühjahr 1929 mit dem jungen Jean Paul Sartre, der – so weiß es Florian Illies – in der École Normale Simone de Beauvoir erstmals in die Augen schaut und dabei das einzige Mal in seinem Leben den Verstand verliert. Natürlich ist das ein hübsches Bonmot, das einstimmt auf das, was uns auf den kommenden 400 Seiten alles begegnen wird. Denn meist geht es um den Verstand, der sich der Liebe opfert, oder Kunst, die dem übergroßen Gefühl huldigt. So viel Rausch, so viel Bitterkeit, so viel Erfüllung und so viel Betrogene lässt das von Illies bestimmte Jahrzehnt zurück!
Unter den drei Abteilungen „Davor“, „1933“und „Danach“begegnen wir unter vielen anderen Bertolt Brecht, der rücksichtslos Liebende, der gleich nach seiner Hochzeit mit Helene Weigel zur Geliebten an den Bahnhof eilt. Aber auch das scheint exemplarisch zu sein: Weil die Zukunft, das ahnen viele, so klein geworden ist, muss alles Gegenwart sein. Zum Beispiel Margot von Opel. Die muss ihre Liebe zum melancholischen Erich Maria Remarque überwinden, da dieser zwischenzeitlich in Marlene Dietrich vernarrt ist; also verliebt sie sich trotzig in Annemarie Schwarzenbach. Die aber ist noch melancholischer als Remarque und muss selbst über ihren Mann hinwegkommen.
Es ist ein maximal indiskretes Buch geworden – und auch darin liegt sein Reiz. Illies sagt das etwas vornehmer, als wir ihn im Frankfurter Hof treffen: „Liebesgeschichten können die Menschen sehr pur zeigen – in ihren elementaren Gefühlen wie Angst und Sehnsucht und Leidenschaft. Über diesen Weg kann man eine andere Geschichte der Zeit erzählen. Die Politik ragt in das libertäre Leben der Menschen hinein. Was heißt es, in den 1930er-Jahren zu leben und was heißt es, sich zu behaupten? Vielleicht haben wir die Menschen dieser Zeit ein wenig außer Acht gelassen.“
Und auch ihre Schicksale. Denn ohne Politik geht es nicht in diesem Liebesbuch. Wie am Beispiel von Bruno Balz, den Goebbels 1939 inhaftieren und foltern lässt, weil dieser homosexuell ist. Doch dann braucht man den Schlagertexter wieder. Bei der Ufa wird gerade „Die große Liebe“gedreht, mit der großen Zarah Leander. Und die sucht Lieder. Also wird Balz in die Studios geschickt, für 24 Stunden. Zwei Songs schreibt er in dieser Zeit: „Ich weiß, es wird einmal ein Wunder
geschehen“und „Davon geht die Welt nicht unter“. Beides, schreibt Illies, erweist sich als unzutreffend.
„Was da alles an inneren Verwüstungen stattfand, das sind wichtige Aspekte, um diese Zeit verstehen zu können“, sagt Illies. Natürlich sei es in Deutschland zunächst darum gegangen, die großen Fragen von Schuld und Verantwortung in den Blick zu nehmen – bevor man sich auch der Gefühlslage der Menschen widmet. „Ich möchte eine Zeit anschaulich machen und wieder zum Leben erwecken, indem ich versuche, den Emotionen dieser Jahre nahezukommen. Vielleicht ist das Buch auch eine Art Wanderführer zurück in diese Zeit. Wobei ich aber den Boden der Fakten nie verlasse.“
Deprimierend bleibt bei alledem, dass man nie „Lehrsätze aus der Vergangenheit für die Gegenwart ableiten“kann. Was uns die Vergangenheit lehrt, ist, die Widersprüchlichkeit der Gegenwart zu akzeptieren. Widersprüche, die es damals gab, die es heute gibt.