Der Kälte ausgeliefert
In Ländern wie Jordanien, Syrien und im Irak leiden Millionen Geflüchtete unter den eisigen Temperaturen. Soforthilfe ist nun gefragt.
ERBIL Eis, klirrende Kälte und Schneestürme mit Geschwindigkeiten von bis zu 80 Kilometer pro Stunde bedrohen aktuell Millionen Menschen in Jordanien, im Libanon und in Syrien. In den kommenden Tagen werden rekordverdächtige Temperaturtiefststände von minus 14 Grad und mehr erwartet. Auch im Irak ist es derzeit bitterkalt. In Sinjar, der Jesidenstadt nahe der Grenze zu Syrien, fiel ein Meter Schnee. Viele Menschen in der Region leben in Zelten oder in zugigen Gebäuden, die keine Türen oder Fenster haben.
Die Hilfsorganisation Care warnt daher, dass besonders die Millionen geflüchteten Syrerinnen und Syrer, die meist in nur notdürftigen Unterkünften leben, besonders von der Kälte bedroht sind. Bisher wurden über 6,7 Millionen Menschen innerhalb von Syrien vertrieben. Fast genauso viele Geflüchtete leben mittlerweile in Nachbarländern wie Jordanien, dem Libanon und der Türkei. Die meisten von ihnen sind in Zelten, Rohbauten oder Schuppen untergekommen – bei den harten Winterbedingungen geht es ums Überleben. Care ist vor allem besorgt um die Situation der unzähligen vertriebenen syrischen Frauen und Mädchen.
Karl-Otto Zentel ist der Generalsekretär von Care Deutschland und befindet sich beim Gespräch mit unserer Redaktion im irakischkurdischen Erbil. Im Winter ist Soforthilfe gefragt: warme Kleidung, Decken, kleine Heizöfen und Kerosin. Zentel hat ein Flüchtlingslager in der Provinz Dohuk besucht, unweit der Grenze zu Syrien. Denn nicht nur in Syrien selbst sind Menschen auf der Flucht, auch im Irak sind Millionen Flüchtlinge zu verzeichnen. In Syrien flohen die Menschen vor der Rache des Diktators Bashar al-Assad, seinen Milizen und Bomben, im Irak vor der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) und deren grausamer Verfolgung. Während der IS in Syrien nur eine von unzähligen Widerstandsgruppen gegen das Regime Assads darstellt, war er im Irak die über vier Jahre herrschende Terrorgruppe. Weite Teile Nordiraks und Teile Nordostsyriens brachten die Dschihadisten unter ihre Kontrolle und riefen dort ein sogenanntes Kalifat aus.
Städte wie Rakka in Syrien und Mossul im Nordirak wurden zu Terrorhochburgen. Offiziell waren die Extremisten 2018 besiegt, verloren ihr Territorium. Doch Flüchtlinge sprechen in letzter Zeit verstärkt von einem erneuten Erstarken der Terrortruppe. Auch Karl-Otto Zentel kommt mit der Information aus den Lagern zurück, dass wieder regelmäßig Angriffe des IS auf strategische Ziele in der Region stattfänden und sie eifrig neue Mitglieder rekrutieren. „Viele junge Männer leben seit Jahren in den Camps, sie finden keine Arbeit und haben kaum eine Perspektive. Über das Smartphone flüchten sie in andere Realitäten und dort lauert auch die Gefahr des Extremismus“, sagt er.
IS-Kämpfer kämen von Syrien rüber in den Irak. Traumatisierte Kinder aus IS-Händen mit anerzogener Aggressivität, die seit Jahren in Lagern lebten, keine Perspektive bekämen. Das sei eine Gefahr, die nicht zu unterschätzen sei, so Zentel: „Die Region ist noch lange nicht befriedet.“Die heftigste Attacke der Terrormiliz seit fast drei Jahren ereignete sich vergangenes Wochenende in Nordostsyrien. Der Angriff auf die von Kurden kontrollierte Stadt Hassaka dauerte über Stunden und forderte mehr als 60 Tote. In der dortigen Haftanstalt sitzen rund 5000 IS-Anhänger ein, darunter führende Köpfe der Miliz. Durch den Angriff sollten diese freikommen, was auch teilweise geschah. Es ist nicht bekannt, wie viele Gefängnisinsassen fliehen konnten.
Zentel sieht den Irak als Bestandteil der Syrien-Krise und deshalb die Region als Ganzes. Doch die Mittel würden schrumpfen. Es herrsche eine gewisse Müdigkeit bei den Geberländern. Die Hilfsorganisation Care International stellte ihre Arbeit im Irak ein, nachdem eine Mitarbeiterin Ende 2004 entführt und ermordet wurde. Erst zehn Jahre später nahm sie die Arbeit dort wieder auf, als der IS im Sommer 2014 den Nordirak überrollte, Hunderte brutal ermordete, Frauen versklavte und viele Menschen in die Berge flüchteten.
Karl-Otto Zentel lobt ausdrücklich den Einsatz der kurdischen Regionalregierung in Erbil, die Tausende Flüchtlinge aufnahm, Lager für sie errichtete und eine Notversorgung gewährleistete. Organisationen wie Care halfen mit bei der Wasserversorgung. Jetzt allerdings sei ein Engagement wichtig, das über die bloßen Grundbedürfnisse wie Sanitär und Wasser hinausgehe, so Zentel. Der studierte Islamwissenschaftler spricht von psychosozialer Betreuung, damit die Menschen, die Schlimmes erlebt haben, ein neues Leben anfangen könnten.