Pandemie trifft Kinder mit ADHS hart
Früher sprach man oft von einem „Zappelphilipp“, heute wissen Ärzte: Bis zu sechs Prozent der Kinder haben ein Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom. Die Therapie ist besser geworden, doch Probleme bleiben.
MÖNCHENGLADBACH Es ist ein sperriges Wort: Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom. Bekannter ist daher wohl eher seine Abkürzung: ADHS. Dahinter verbirgt sich eine Störung, von der nach Angaben des Bundesgesundheitsministeriums schätzungsweise zwei bis sechs Prozent der Kinder und Jugendlichen betroffen sind. Typische Symptome sind übersteigerter Bewegungsdrang, gestörte Konzentrationsfähigkeit und impulsives, unüberlegtes Handeln – Verhaltensauffälligkeiten, die man einst oft mit dem Begriff „Zappelphilipp“verband und mitunter achselzuckend oder hilflos abgetan hat. Das Bild hat sich erst vor nicht allzu langer Zeit geändert. „In den 1990er Jahren ist die Diagnose ADHS in der Gesellschaft zu einem Thema geworden“, sagt Jürgen Vieten. Der Psychiater und Psychotherapeut war bis vor Kurzem auch Vorsitzender des Mönchengladbacher ADHS Netzwerks, das Betroffene und deren Eltern beraten, mit Informationen und Ansprechpartnern versorgt hat. Doch nun hat sich das Netzwerk nach etlichen Jahren Arbeit aufgelöst. Weil ADHS kein Problem mehr ist in Mönchengladbach?
Mitnichten. „Wenn etwa sechs Prozent der Kinder von ADHS betroffen sind, ist das Problem nach wie vor groß“, sagt Vieten, zumal etwa die Hälfte davon auch im Erwachsenenalter von der Störung noch betroffen sind. Einen Unterschied gebe es inzwischen aber, meint Vieten: „ADHS wird mittlerweile besser verstanden, klarer definiert und gut behandelt.“Die Zahl der Anfragen an das Netzwerk sei in den vergangenen Jahren entsprechend gesunken. Mithin beschloss das Netzwerk, sich aufzulösen. Das restliche Vereinsvermögen in Höhe von 4000 Euro spendete es laut Vieten zur Unterstützung des Beratungsangebots „KipE – Kinder psychisch kranker Eltern“, das zum Reha-Verein Mönchengladbach gehört.
Dass es Fortschritte im Wissen über und bei der Behandlung von ADHS gibt, sieht auch Marion Paland-Huckemann. Vollends zufriedenstellend sei die Situation aber immer noch nicht, meint sie. Das Thema ist seit mehr als 20 Jahren ein Schwerpunkt der Arbeit der Mönchengladbacher Kinderärztin. Schon 2005 hat sie eine Fortbildung zum ADHS Elterncoach absolviert, 2006 war sie bei der Gründung eines Qualitätszirkels ADHS des Pädnetz Niederrhein, ein Verbund niedergelassener Kinder- und Jugendärzte, dabei.
„Die neurobiologischen Zusammenhänge sind inzwischen gut erforscht“, sagt die Ärztin. Mit Hilfe bildgebender Verfahren sei es gelungen, Veränderungen in der Hirnstruktur und Funktionsweise des Hirns bei ADHS-Betroffenen nachzuweisen. Ein Beleg dafür, dass es sich bei ADHS nicht nur um eine eingebildete oder gar von einigen Ärzten erfundene Störung oder um Folgen einer mangelhaften Erziehung handelt.
Leider sei diese Erkenntnis aber immer noch nicht in allen Köpfen angekommen, sagt Paland-Huckemann. Bei manchen Lehrern und Sozialpädagogen, die sich in ihrer Ausbildung weniger mit medizinischen Themen als mit Erziehungsfragen beschäftigen, herrsche da immer noch eine andere Sichtweise. Klar sei inzwischen auch, so Paland-Huckemann, dass ein genetischer und damit vererblicher Faktor eine große Rolle bei ADHS spiele.
2018 sei eine nationale Leitlinie zur Diagnose und Behandlung von ADHS verabschiedet worden, an der eine Reihe von medizinischen Fachgesellschaften und Experten unterschiedlicher Disziplinen beteiligt waren, sagt Paland-Huckemann. Auch dies wertet sie als Fortschritt. Heutzutage setze die Therapie zunächst bei Aufklärungsarbeit mit Eltern von ADHS betroffener Kinder und bei den Lebensumständen der Kinder an: Für sie sind beispielsweise regelmäßige Tagesabläufe und feste Strukturen für Essen, Lernen und Spielen wichtig. Nicht selten sei darüber hinaus die Behandlung mit Medikamenten „der Goldstandard“, sagt Paland-Huckemann. Aber gegenüber einer Medikamentation gebe es immer noch Vorurteile.
Bei diesen Mitteln gehe es aber nicht darum, die Kinder einfach nur „abzuschießen“, will heißen ruhigzustellen. „Es gibt mittlerweile eine breite Palette verschiedener Medikamente, die man individuell für ein Kind auswählen kann“, sagt die Ärztin. Die Medikamente schaffen ihrer Meinung nach die Grundlage, um dann infolge von ADHS entstandene Defizite bei Kindern beispielsweise durch Logopädie oder Ergotherapie aufzuarbeiten.
Die Pandemie erschwere die Beratungsarbeit und Behandlung, sagt Paland-Huckemann. Elterntrainings könne sie derzeit in ihrer Praxis nicht anbieten, bei Therapeuten gebe es Wartelisten für Termine. Bei etlichen Kinder mit ADHS hätten sich die Symptome verschlimmert, weil Lockdowns, Homeschooling und womöglich längere Phasen des Alleinseins die so wichtigen Tagesstrukturen durcheinanderbrachten.