Orbáns Schicksalsjahr
Der autokratisch regierende ungarische Premier muss bei der Parlamentswahl im April um seine Macht fürchten. Die Opposition hofft auf einen Sieg.
BUDAPEST/WIEN Viktor Orbán, der sich für einen der mächtigsten Regierungschefs Europas hält, ist aufs Betteln angewiesen. In einem Brief an die Mitglieder seiner rechtsnationalistischen Regierungspartei Fidesz bittet er um Wahlkampfspenden; ein vom Premier unterzeichneter Scheck samt politischer Botschaft liegt bei: „Wir stehen vor einer entscheidenden Wahl: Es geht um nichts Geringeres als um die Frage, welche Richtung unser Land einschlagen wird.“
Seit seinem Amtsantritt 2010 musste sich Orbán darüber nicht den Kopf zerbrechen. Nun stellt sich am 3. April erstmals die Frage: Bleibt Ungarn nach der Wahl der autokratische Ein-Partei-Staat, wie ihn Orbán in den vergangenen zwölf Jahren geschaffen hat, oder kehrt das Land zurück zu rechtsstaatlichen Strukturen, wie sie innerhalb der Europäischen Union üblich sind?
Die Hoffnung lebt: Fidesz und das Wahlbündnis der Opposition liegen in Umfragen seit Wochen gleichauf. Die Anführer der bislang hoffnungslos zerstrittenen Opposition, die praktisch das gesamte politische Spektrum umfasst, hat begriffen: Die einzige Chance, Orbán zu besiegen, ist Geschlossenheit. So schmiedeten sechs Parteien – Konservative, Liberale, Sozialisten, Grüne – ein Sechs-Parteien-Bündnis und stellten einen gemeinsamen Kandidaten auf: den 49-jährigen Péter Márky-Zay, Bürgermeister der südungarischen Kleinstadt Hódmezövásárhely.
Landesweit populär wurde er, als er 2018 die damalige Fidesz-Hochburg geschleift hat. Márky-Zay lässt sich schwerlich als linker Staatsfeind anschwärzen: Als Konservativer, gläubiger Katholik und siebenfacher Vater entspricht er exakt dem von Orbán gepredigten Familien-Ideal
und bietet sich für die vielen verdrossenen Fidesz-Wähler als Alternative an.
Doch auch Orbáns Hoffnung lebt: Mehr als das Ziel, ihn zu stürzen, eint das oppositionelle Bündnis bislang nicht. Auch vermag Márky-Zay bislang als ernsthafter Herausforderer noch nicht restlos zu überzeugen. Sein Auftreten wirkt linkisch, seine Äußerungen oft wenig überlegt und schlüssig. Noch glaubt Orbán, ihn nicht einmal beim Namen nennen zu müssen.
Dennoch hat er offenbar Angst. Der ungarische Ministerpräsident verspricht Wahlgeschenke in Milliardenhöhe. Um die Finanzierung soll sich die Nachfolgeregierung kümmern: Die Verschuldung des Staates nimmt beträchtlich zu, während die EU zugleich die
7,2 Milliarden
Euro an Corona-Hilfe zurückhält, solange Orbán die rechtsstaatlichen Defizite nicht glaubhaft beseitigt und die Korruption bekämpft. Orbán hat bereits den Großteil der Zuschüsse aus Brüssel wettbewerbswidrig an Familienmitglieder, regierungsnahe Unternehmer und Oligarchen in Form von staatlichen Aufträgen verteilt.
So bietet der ungarische Premier auch in diesem Wahlkampf seine alten Hauptfeinde auf: die EU und den milliardenschweren Philanthropen und Demokratieförderer Georges Soros, die beide Ungarn angeblich die Souveränität nehmen und das Land mit islamischen Migranten überschwemmen wollen. „Wir sind in eine Ära voller Gefahren eingetreten“, schreibt Orbán in seinem Bettelbrief an die Fidesz-Mitglieder, „in der wir uns der (Corona)-Pandemie, der illegalen Migration und den zunehmend aggressiven Einmischungsversuchen
Brüssels und des Soros-Imperiums erwehren müssen.“
Für die Wahlpropaganda eignen sich für Orbán auch Homosexuelle und Transgenderpersonen. Just am Wahltag lässt er in einem Referendum darüber abstimmen, ob deren Rechte der EU-Norm angepasst werden sollen. Orbán präsentiert sich als Hüter der traditionellen, christlichen Familie gegen die „Gefahren“des dekadenten Westens.
Als Wähler umwirbt Orbán erneut die Auslandsungarn, für die er mit einer weiteren Gesetzesnovelle die Wahlbeteiligung praktisch hürdenfrei macht. Besonders die ethnischen Ungarn in Rumänien, der Slowakei und in Serbien gelten überwiegend als Orbán-Anhänger, deren Stimmen könnten sogar mehrheitsentscheidend sein.
Schon das bisherige, von der Orbán-Regierung mehrfach geänderte Wahlgesetz bevorzugt die Regierungspartei Fidesz derart krass, dass Wahlbeobachter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) zu dem Schluss kamen: Wahlen in Ungarn seien „zwar frei, aber nicht fair“. Opposition und Bürgerinitiativen fordern diesmal eine stärkere OSZE-Mission, die allerdings nur tätig werden kann, wenn sie die Regierung einlädt. Orbán wird seinen Gegnern diesen Gefallen vermutlich wohl nicht tun.