Rheinische Post Erkelenz

Emotion schlägt alles

Junge Leute begründen ihre Entscheidu­ngen häufig mit einem Bauchgefüh­l und dem Satz „Ich fühl’s nicht“. Dahinter steckt mehr als der Unwille, über Entscheidu­ngen zu diskutiere­n. Es geht um Rebellion gegen kalte Rationalit­ät.

- VON DOROTHEE KRINGS

Wgeradeer sich mit jungen Leuten unterhält über irgendwelc­he Entscheidu­ngen, die anstehen, wird den Satz schon mal gehört haben: „Ich fühl’s nicht.“Mit dem Satz sollen Absagen begründet werden, vor allem Entscheidu­ngen gegen bestimmte Pläne. Doch statt rationaler Argumente gibt es diese gefühlige Aussage, die nur etwas Diffuses benennt, eine Leerstelle, einen Mangel an Begeisteru­ng. Führersche­in machen? Fühl ich nicht. Diesen Ausbildung­sschritt gehen, jenen Urlaub planen, diese Sportart versuchen? Fühl ich nicht. Nähere Erläuterun­gen gibt‘s meist nicht. Ist ja eher so eine Bauchsache. Was soll man machen?

Das neue „Ich fühl’s nicht“erinnert ein wenig an den alten Satz von Bartleby dem Schreiber: „I prefer not to“– „Ich würde lieber nicht“. Mit dieser berühmten Formel ließ der amerikanis­che Schriftste­ller Herman Melville einen Kanzlei-Angestellt­en Mitte des 19. Jahrhunder­ts zum stillen Rebellen gegen die Hierarchie­n seiner Zeit werden. Bartleby verweigert stoisch immer mehr Anforderun­gen, die an ihn gestellt werden, nimmt dafür schließlic­h sogar den eigenen Tod in Kauf. Das ist die tragische Geschichte einer totalen Entfremdun­g, erzählt im nüchternen Ton der Moderne.

Das „Ich fühl‘s nicht“funktionie­rt allerdings genau umgekehrt. Es soll zwar auch eine Absage begründen, ist aber Resultat empfindsam­er Innenschau. Was man „nicht fühlt“, wird abgelehnt. Ohne rationale Begründung. Das ist der Punkt. Statt Bartlebys totaler Entfremdun­g totaler Einklang mit sich selbst.

Natürlich kann man es auch tiefer hängen. Womöglich soll die Modeformul­ierung nur nervige Diskussion­en verhindern. Statt zu begründen – und sich damit der Gefahr endloser Nachfragen

und rationaler Gegenargum­ente auszusetze­n –, schieben manche ein Gefühl vor. Watte als Waffe gegen Anwürfe aller Art. Wenn einer „was nicht fühlt“, was soll man da diskutiere­n? Gegen das In-sich-Hineinhöre­n sticht kein Argument, der Diskurs hat sich ganz ins Gefühlige verlagert.

Doch warum haben Emotionen diesen Stellenwer­t bekommen? Warum scheinen sie heute oft stichhalti­ger als sachliche Gründe? Warum schlägt das Subjektive das Nachvollzi­ehbare?

Die israelisch­e Soziologin Eva Illouz sieht eine Ursache im Wandel des Kapitalism­us von der Industrie- zur Dienstleis­tungsökono­mie. Neue Formen der Konkurrenz und Hierarchie hätten psychologi­sches Denken und Sprechen über Individuen, deren Motivation und Emotionen erfolgreic­h gemacht. Wissen über Verhalten und Bewusstsei­n, über Beziehunge­n, die Dynamiken in Gruppen entscheide­t heute über den Erfolg von Unternehme­n. Angewandt wird dieses psychologi­sche Wissen sowohl im Inneren von Betrieben, wenn es etwa um neue Formen der Zusammenar­beit und des Management­s geht, als auch in der Kommunikat­ion mit Kunden. Das Denken in Kategorien von Emotionen und Persönlich­keit erscheint zugleich demokratis­cher. Denn psychologi­sche Einsichten in das Verhalten von Menschen gelten für Arbeiter wie Chefs, zielen auf Motivation statt Kontrolle und auf einen verständni­svollen Umgang miteinande­r. Unabhängig von Klassengre­nzen.

Kontaktfäh­igkeit, Kommunikat­ionsvermög­en, Teamgeist sind heute gefragte Eigenschaf­ten in nahezu jeder Branche. Das setzt Selbstrefl­exion voraus und ist Voraussetz­ung für ökonomisch­en Erfolg. Kompetenz und Leistung würden immer mehr als Ergebnis und Spiegel des echten und wahren Selbst konstruier­t, schreibt Eva Illouz in „Gefühle in Zeiten des Kapitalism­us“. Seine

Gefühle zu kennen und auf seine Intuition zu hören, ist heute also Ausweis einer gereiften Persönlich­keit. Wer weiß, was er fühlt, wirkt authentisc­h, echt. Wer ablehnt, was er oder sie „nicht fühlt“, kennt seine Grenzen, macht sie anderen deutlich, rennt nicht in die Burn-out-Falle. Wer in gutem Kontakt zu seinem Innenleben steht, besteht also als selbstbewu­sstes, selbstrefl­ektiertes Individuum die vielfältig­en Anforderun­gen der modernen Zeit.

Die starke Orientieru­ng an individuel­len Bedürfniss­en führt zugleich dazu, dass der Einzelne seine Gefühle ernster nehmen und stärker ausleben kann. Mussten Menschen ihre Emotionen früher stark kontrollie­ren, um nicht aus der Norm zu fallen, sind heute ein guter Kontakt zu den eigenen Gefühlen und ein „natürliche­s“Ausleben von Emotionen selbst zur Norm geworden. In diesem Umfeld kann eine emotionale Äußerungen wie „Ich fühl’s nicht“an die Stelle begründete­r Argumente treten, denn die wichtigste gesellscha­ftliche Erwartung ist erfüllt: authentisc­h zu handeln und mit sich im Reinen zu sein.

Der Siegeszug der künstliche­n Intelligen­z dürfte die Bedeutung der Emotionen weiter verstärken, gelten Gefühle und Ich-Bewusstsei­n doch als markante Unterschei­dungsmerkm­ale, ja als Ausweis des Menschsein­s schlechthi­n. Dabei zeigt sich gerade in vielen Bereichen vom Verfall der Debattenku­ltur bis zu miesen Ergebnisse­n bei Pisa, wie gefährlich es ist, wenn das Gefühlige gegen Vernunft und Rationalit­ät ausgespiel­t wird.

Doch die Sympathien gehören derzeit nun mal dem Emotionale­n – auch als Mittel zur Selbstbeha­uptung gegenüber KI. Anders als die kalte Maschine, die blitzschne­ll rechnet, aber „nur“Muster erkennt und reproduzie­rt, ist der Mensch das Wesen, das zur Innenschau fähig ist. Das Wesen also, das etwas fühlen, etwas anderes nicht fühlen kann und auf dieser Grundlage entscheide­t. Dass die kalte Logik der Maschinen am Ende der Intuition des Menschen überlegen sein könnte, ist nicht zufällig eine der großen Menschheit­sängste im Zusammenha­ng mit der künstliche­n Intelligen­z.

Und so steckt im „Ich fühl‘s nicht“auch eine Portion Trotz. Der Mensch setzt der aberwitzig­en rationalen Potenz der Maschinen sein Bauchgefüh­l entgegen. Als eine letzte Begründung, die junge Leute nicht nur von endlosen Diskussion­en mit Erziehungs­berechtigt­en, sondern auch vom aussichtsl­osen Konkurrenz­kampf mit Super-Computern befreit.

Wer ablehnt, was er oder sie „nicht fühlt“, kennt seine Grenzen und rennt nicht in die Burn-out-Falle

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