Emotion schlägt alles
Junge Leute begründen ihre Entscheidungen häufig mit einem Bauchgefühl und dem Satz „Ich fühl’s nicht“. Dahinter steckt mehr als der Unwille, über Entscheidungen zu diskutieren. Es geht um Rebellion gegen kalte Rationalität.
Wgeradeer sich mit jungen Leuten unterhält über irgendwelche Entscheidungen, die anstehen, wird den Satz schon mal gehört haben: „Ich fühl’s nicht.“Mit dem Satz sollen Absagen begründet werden, vor allem Entscheidungen gegen bestimmte Pläne. Doch statt rationaler Argumente gibt es diese gefühlige Aussage, die nur etwas Diffuses benennt, eine Leerstelle, einen Mangel an Begeisterung. Führerschein machen? Fühl ich nicht. Diesen Ausbildungsschritt gehen, jenen Urlaub planen, diese Sportart versuchen? Fühl ich nicht. Nähere Erläuterungen gibt‘s meist nicht. Ist ja eher so eine Bauchsache. Was soll man machen?
Das neue „Ich fühl’s nicht“erinnert ein wenig an den alten Satz von Bartleby dem Schreiber: „I prefer not to“– „Ich würde lieber nicht“. Mit dieser berühmten Formel ließ der amerikanische Schriftsteller Herman Melville einen Kanzlei-Angestellten Mitte des 19. Jahrhunderts zum stillen Rebellen gegen die Hierarchien seiner Zeit werden. Bartleby verweigert stoisch immer mehr Anforderungen, die an ihn gestellt werden, nimmt dafür schließlich sogar den eigenen Tod in Kauf. Das ist die tragische Geschichte einer totalen Entfremdung, erzählt im nüchternen Ton der Moderne.
Das „Ich fühl‘s nicht“funktioniert allerdings genau umgekehrt. Es soll zwar auch eine Absage begründen, ist aber Resultat empfindsamer Innenschau. Was man „nicht fühlt“, wird abgelehnt. Ohne rationale Begründung. Das ist der Punkt. Statt Bartlebys totaler Entfremdung totaler Einklang mit sich selbst.
Natürlich kann man es auch tiefer hängen. Womöglich soll die Modeformulierung nur nervige Diskussionen verhindern. Statt zu begründen – und sich damit der Gefahr endloser Nachfragen
und rationaler Gegenargumente auszusetzen –, schieben manche ein Gefühl vor. Watte als Waffe gegen Anwürfe aller Art. Wenn einer „was nicht fühlt“, was soll man da diskutieren? Gegen das In-sich-Hineinhören sticht kein Argument, der Diskurs hat sich ganz ins Gefühlige verlagert.
Doch warum haben Emotionen diesen Stellenwert bekommen? Warum scheinen sie heute oft stichhaltiger als sachliche Gründe? Warum schlägt das Subjektive das Nachvollziehbare?
Die israelische Soziologin Eva Illouz sieht eine Ursache im Wandel des Kapitalismus von der Industrie- zur Dienstleistungsökonomie. Neue Formen der Konkurrenz und Hierarchie hätten psychologisches Denken und Sprechen über Individuen, deren Motivation und Emotionen erfolgreich gemacht. Wissen über Verhalten und Bewusstsein, über Beziehungen, die Dynamiken in Gruppen entscheidet heute über den Erfolg von Unternehmen. Angewandt wird dieses psychologische Wissen sowohl im Inneren von Betrieben, wenn es etwa um neue Formen der Zusammenarbeit und des Managements geht, als auch in der Kommunikation mit Kunden. Das Denken in Kategorien von Emotionen und Persönlichkeit erscheint zugleich demokratischer. Denn psychologische Einsichten in das Verhalten von Menschen gelten für Arbeiter wie Chefs, zielen auf Motivation statt Kontrolle und auf einen verständnisvollen Umgang miteinander. Unabhängig von Klassengrenzen.
Kontaktfähigkeit, Kommunikationsvermögen, Teamgeist sind heute gefragte Eigenschaften in nahezu jeder Branche. Das setzt Selbstreflexion voraus und ist Voraussetzung für ökonomischen Erfolg. Kompetenz und Leistung würden immer mehr als Ergebnis und Spiegel des echten und wahren Selbst konstruiert, schreibt Eva Illouz in „Gefühle in Zeiten des Kapitalismus“. Seine
Gefühle zu kennen und auf seine Intuition zu hören, ist heute also Ausweis einer gereiften Persönlichkeit. Wer weiß, was er fühlt, wirkt authentisch, echt. Wer ablehnt, was er oder sie „nicht fühlt“, kennt seine Grenzen, macht sie anderen deutlich, rennt nicht in die Burn-out-Falle. Wer in gutem Kontakt zu seinem Innenleben steht, besteht also als selbstbewusstes, selbstreflektiertes Individuum die vielfältigen Anforderungen der modernen Zeit.
Die starke Orientierung an individuellen Bedürfnissen führt zugleich dazu, dass der Einzelne seine Gefühle ernster nehmen und stärker ausleben kann. Mussten Menschen ihre Emotionen früher stark kontrollieren, um nicht aus der Norm zu fallen, sind heute ein guter Kontakt zu den eigenen Gefühlen und ein „natürliches“Ausleben von Emotionen selbst zur Norm geworden. In diesem Umfeld kann eine emotionale Äußerungen wie „Ich fühl’s nicht“an die Stelle begründeter Argumente treten, denn die wichtigste gesellschaftliche Erwartung ist erfüllt: authentisch zu handeln und mit sich im Reinen zu sein.
Der Siegeszug der künstlichen Intelligenz dürfte die Bedeutung der Emotionen weiter verstärken, gelten Gefühle und Ich-Bewusstsein doch als markante Unterscheidungsmerkmale, ja als Ausweis des Menschseins schlechthin. Dabei zeigt sich gerade in vielen Bereichen vom Verfall der Debattenkultur bis zu miesen Ergebnissen bei Pisa, wie gefährlich es ist, wenn das Gefühlige gegen Vernunft und Rationalität ausgespielt wird.
Doch die Sympathien gehören derzeit nun mal dem Emotionalen – auch als Mittel zur Selbstbehauptung gegenüber KI. Anders als die kalte Maschine, die blitzschnell rechnet, aber „nur“Muster erkennt und reproduziert, ist der Mensch das Wesen, das zur Innenschau fähig ist. Das Wesen also, das etwas fühlen, etwas anderes nicht fühlen kann und auf dieser Grundlage entscheidet. Dass die kalte Logik der Maschinen am Ende der Intuition des Menschen überlegen sein könnte, ist nicht zufällig eine der großen Menschheitsängste im Zusammenhang mit der künstlichen Intelligenz.
Und so steckt im „Ich fühl‘s nicht“auch eine Portion Trotz. Der Mensch setzt der aberwitzigen rationalen Potenz der Maschinen sein Bauchgefühl entgegen. Als eine letzte Begründung, die junge Leute nicht nur von endlosen Diskussionen mit Erziehungsberechtigten, sondern auch vom aussichtslosen Konkurrenzkampf mit Super-Computern befreit.
Wer ablehnt, was er oder sie „nicht fühlt“, kennt seine Grenzen und rennt nicht in die Burn-out-Falle