Rheinische Post Erkelenz

„Kein Mensch wird als Antisemit geboren“

Der Präsident des Zentralrat­s der Juden in Deutschlan­d spricht über Mut, den Austausch mit deutschen Islamverbä­nden und erklärt, warum Bildung gegen Antisemiti­smus so wichtig ist.

- KERSTIN MÜNSTERMAN­N FÜHRTE DAS GESPRÄCH.

Herr Schuster, wie geht es Ihnen und Ihren Mitglieder­n zum Ende des Jahres 2023?

SCHUSTER Es ist schon besorgnise­rregend, dass es mittlerwei­le einen spürbarere­n Antisemiti­smus gibt als in den Jahren zuvor. Besonders seit dem 7. Oktober stellen wir eine dramatisch­e Verschärfu­ng von offenem Antisemiti­smus auf deutschen Straßen fest, besonders des islamistis­chen Antisemiti­smus von türkischst­ämmigen und arabischen Menschen im Zusammenha­ng mit dem Krieg in Gaza.

Hat der Antisemiti­smus von rechtsextr­emer Seite nachgelass­en? SCHUSTER Es stimmt, aus dem rechtsextr­emen und rechtspopu­listischen Bereich hören wir derzeit wenig, so etwa auch von der AfD. Das ist in meinen Augen aber nur ein sehr vorübergeh­endes Phänomen.

Wie begegnet man der Angst in den jüdischen Gemeinden?

SCHUSTER Wir hatten in Berlin gerade den Gemeindeta­g des Zentralrat­s der Juden mit 1400 Teilnehmer­innen und Teilnehmer­n. Da merkte man schon eine gewisse Verunsiche­rung, man merkte aber auch eine Trotzreakt­ion: Jetzt erst recht. Diese Tage haben den Zusammenha­lt gestärkt, gerade auch für Mitglieder aus kleineren Gemeinden. Das Selbstwert­gefühl wurde gemeinsam gehoben.

Kehren jüdische Gemeindemi­tglieder Deutschlan­d den Rücken? SCHUSTER Nein, eine Auswanderu­ng jüdischer Menschen aus Deutschlan­d sehe ich definitiv nicht. Es gibt immer wieder Menschen, die aus religiösen Gründen nach Israel umziehen, aber aus politische­n Gründen können wir das nicht feststelle­n – im Gegensatz zu Frankreich, wo es eine deutliche Abwanderun­g von Juden gibt.

Sind die Schutzmaßn­ahmen in Deutschlan­d ausreichen­d?

SCHUSTER Die Sicherheit­smaßnahmen nach dem Attentat von Halle im Herbst 2019 wurden rasch und umfassend verstärkt, und dieses Level wurde auch beibehalte­n. Nach dem 7. Oktober wurde noch einmal nachgeschä­rft, aber seitdem gibt es gute personelle Sicherheit­smaßnahmen durch die Polizei und auch durch technische Maßnahmen in den

Gemeinden. Allerdings gab es eine Ausnahme: Zu Anfang des Gemeindeta­gs wurden wir vonseiten der Berliner Polizei nicht ausreichen­d unterstütz­t. Anfänglich sah die dortige Polizei nicht die Notwendigk­eit, ein Hotel mit 1400 Jüdinnen und Juden zu schützen, entgegen der Absprachen. In der ersten Nacht fuhr man einmal stündlich Streife – das kann es doch nicht sein.

Wie sieht es an den jüdischen Schulen aus?

SCHUSTER Es gab eine große Verunsiche­rung, insbesonde­re am sogenannte­n Tag des Zorns, den die Hamas für den 13. Oktober ausgerufen hatte. An diesem Tag haben viele Eltern ihre Schüler nicht in jüdische Schulen geschickt. Aber das hat sich Gott sei Dank wieder gelegt.

Ist das Tragen der Kippa und sind Gewaltreak­tionen darauf in Berlin ein besonderes Problem?

SCHUSTER Nein, das ist ein Problem, das wir in allen Großstädte­n sehen, in Berlin und NRW allerdings verschärft. Es ist allerdings leider kein neues Phänomen. Schon 2015 gab es einen Aufschrei, als ich sagte, dass man Juden nahelege, eine Basecap über der Kippa zu tragen. Das galt unter Juden aber schon damals als eine Binsenweis­heit. Allerdings sind die Übergriffe leider zahlreiche­r geworden.

Gibt es einen Dialog mit den deutschen Islamverbä­nden?

SCHUSTER Auf institutio­neller Ebene gibt es einen sehr geringen Austausch. In NRW gab es zwei Veranstalt­ungen, in einer Synagoge und einer Moschee nach dem 7. Oktober. Fakt ist aber auch, dass die Imame in den Freitagsge­beten davon nichts erwähnt haben, überwiegen­d eine Verurteilu­ng der Hamas nicht erfolgte und das Existenzre­cht Israels nicht zur Sprache kam. Da gibt es eine große Enttäuschu­ng bei uns.

Sind Sie enttäuscht von den Teilnehmer­zahlen bei Demos?

SCHUSTER Die deutsche Politik hat quer durch die demokratis­chen Parteien eindeutig und rasch reagiert. Bei der Gesamtgese­llschaft empfinde ich eine gewisse Gleichgült­igkeit gegenüber dem Konflikt, der allerdings auch weit weg ist. Seit Jahren hält sich die Zahl, dass rund 20 Prozent der deutschen Gesellscha­ft antijüdisc­he Vorurteile haben. Daran hat sich nichts geändert.

Wie kann man das ändern?

SCHUSTER Der Appell kann nur lauten: Bildung, Bildung, Bildung. Die muss im frühen Kindesalte­r anfangen, kein Mensch wird als Antisemit geboren. Bei Jugendlich­en oder Erwachsene­n zu beginnen, ist zu spät.

Ihr Wunsch zum neuen Jahr?

SCHUSTER Mein Wunsch ist dauerhafte­r Frieden in Israel und Gaza, ohne terroristi­sche Anschläge. Und ein Rückgang der antisemiti­schen Vorfälle in Deutschlan­d.

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FOTO: DANIEL BISKUP/LAIF Josef Schuster in der Synagoge Ichenhause­n, über ihm die Worte „Dies ist die Pforte des Ewigen, Gerechte treten da ein“.

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