In der Länge liegt die Würze
Während viele Videos im Internet immer kürzer geschnitten werden, gibt es Sendungen, die teilweise mehrere Stunden dauern. Ein Pionier auf dem Gebiet ist der Youtuber Tilo Jung. Warum geht sein Konzept auf?
Bloß nicht zu lang – so lautet das Credo vieler Produzenten, die mit Videos junge Menschen erreichen wollen. Kurze Clips, sogenannte Reels, dauern bei Instagram und Tiktok häufig nur eine Minute. Es gibt viele Katzenvideos, die nach diesem Muster entstehen. Aber auch seriöse Angebote wie die „Tagesschau“und unsere Redaktion informieren im Netz auf diese Weise – und hoffen mit knappen Clips auf Aufmerksamkeit im kurzlebigen Digitalzeitalter.
Es gibt aber auch Onlineformate, die wie die Gegenantwort auf diese Entwicklung wirken. Zum Beispiel die Youtube-Sendung „Jung & Naiv“. Der Journalist Tilo Jung, der das Gesicht der Reihe ist, interviewt Politiker, Wissenschaftler und Journalisten und stellt die Gespräche in voller Länge ins Netz.
Neu ist die Sendung nicht, es gibt sie seit mehr als zehn Jahren. Doch während sich die Informationsflüsse auf der Welt beschleunigen und alles in immer kürzere Formate gepresst wird, dauern Jungs Interviews zunehmend länger. Seine ersten Gespräche waren nach einigen Minuten zu Ende, irgendwann gingen die Videos anderthalb bis zwei Stunden. Mittlerweile dauern die meisten Interviews noch länger. Sein Vorbild sei Günter Gaus, sagte Jung schon an mehreren Stellen. Gaus führte in den 60er-Jahren durch die ZDF-Sendung „Zur Person“und interviewte unter anderem Ludwig Erhard, Willy Brandt und Hannah Arendt.
Jung stößt auf große Resonanz. Das Interview, das er im vergangenen Sommer mit dem ehemaligen ukrainischen Botschafter Andrej Melnyk führte, klickten mehr als eine halbe Million Menschen an. Es dauerte etwas länger als drei Stunden. Ein 2017 geführtes Interview mit Alexander Gauland haben mehr als zwei Millionen Menschen angeschaut. Jene, die das Format als Podcast hören, sind in diese Zahlen noch nicht eingerechnet.
„Jung & Naiv“ist längst nicht mehr das einzige Format, das in XXL daherkommt. Ähnlich machen es die Verantwortlichen des „Zeit“Podcasts „Alles gesagt?“. Dort dauern die Gespräche mitunter fünf,
manchmal sieben Stunden. Das Konzept sieht vor, dass nur der Gast das Interview beenden kann – wenn seiner Meinung nach eben alles gesagt ist. Anders als „Jung & Naiv“bedient „Alles gesagt?“ein breiteres Gästespektrum. In dem Podcast finden auch Unterhaltungsgrößen wie Marius Müller-Westernhagen einen Platz.
Sein eigenes Gesprächsformat hat auch Gregor Gysi. Der Politiker unterhält sich in der Sendung „Missverstehen Sie mich richtig“seit einigen Jahren mit bekannten Persönlichkeiten über ihr Leben und Wirken. Zu Gast waren unter anderem schon Wolfgang Schäuble, Frank Plasberg und Oliver Pocher. Die Aufzeichnungen der Folgen finden vor Publikum statt und werden im Nachgang bei Youtube veröffentlicht.
Deutlich seltener sind derart lange Gespräche im Fernsehen zu sehen. Das dürfte in der Natur der Sache liegen, sind TV-Produktionen doch
mit einem höheren Aufwand, mehr Kosten und damit auch mit einem größeren Risiko verbunden. Hinzu kommt der allgegenwärtige Quotendruck, dem Fernsehmacher ausgesetzt sind. Lange Einzelgespräche trauen sich Talkshow-Redaktionen zumeist nur dann, wenn bekannte
Persönlichkeiten wie etwa der Bundeskanzler zu Gast sind.
Insofern war es ein unkonventionelles Konzept, auf das der TV-Sender Welt vor zwei Jahren vertraute. Die Verantwortlichen ließen damals einige Ausgaben der Talkshow „Open End“mit Michel Friedman präsentieren. Sie kam, wie der Name sagt, ohne Zeitbegrenzung aus und sollte erst zu einem Abschluss kommen, wenn alle Argumente ausgetauscht waren. Einige der Folgen dauerten damals fast vier Stunden. Inzwischen ist die Sendung eingestellt – mutmaßlich, weil der Produktionsaufwand zu groß war.
Dabei ist es häufig gerade die Länge der Gespräche, die eine tiefgehende Auseinandersetzung ermöglicht. Der Klimaforscher Hans Joachim Schellnhuber etwa bekam bei „Jung & Naiv“fast zwei Stunden eingeräumt, um unter anderem seine Theorie der Klima-Kipppunkte zu erklären. Spannende Interviews bräuchten Zeit, beschreibt Jung das
Konzept seines Formats. Mit dem Münchner Soziologen Armin Nassehi unterhielt sich Jung zuletzt fast vier Stunden lang.
Dennoch gibt es auch Kritik an Jungs Schaffen. Dem 38-Jährigen – der politisch im linken Spektrum zu verorten ist – wird immer wieder vorgeworfen, dass er die Grenzen zwischen Journalismus und Aktivismus verwische. Auch provoziert der Journalist mit seiner Art in der Bundespressekonferenz in Berlin. Zugleich ist die Bandbreite an Gästen beachtlich. In Jungs Sendung saßen bereits Bärbel Bas, Bernie Sanders und Christian Wulff. Eine Gesprächspartnerin, die sich der Youtuber in den vergangenen Jahren stets gewünscht hat, konnte er hingegen noch nicht für sein Format gewinnen: Angela Merkel.
Info Alle Folgen von „Jung und Naiv“, „Missverstehen Sie mich richtig“und „Open End“gibt es bei Youtube, den Podcast „Alles gesagt?“auf Spotify.