Rheinische Post Erkelenz

Zielscheib­e Schilddrüs­e

Die Autoimmune­rkrankung Hashimoto-Thyreoidit­is ist eine chronische Entzündung. Bei der Behandlung ist spezielle Fachkompet­enz erforderli­ch. Eine Expertin erklärt, worauf es ankommt.

- VON WOLFRAM GOERTZ

Der Fahrer ist unschuldig, das Auto selbst fährt immer wieder vor die Wand. Es hat sich selbststän­dig gemacht. Manchmal beginnt es zu rasen, als treibe es ein fürchterli­cher Schub an, manchmal rollt es bedächtig. Aber immer landet es an der Wand, immer nimmt es Schaden – und irgendwann ist alles zerstört.

So müssen wir uns Autoimmune­rkrankunge­n vorstellen, bei denen das Immunsyste­m des Menschen fehlgesteu­ert ist und auf Selbstangr­iff schaltet. Das kann überall im Körper passieren. Beim GuillainBa­rré-Syndrom ist das periphere Nervensyst­em betroffen, das kann zu einer seltsamen Muskelschw­äche führen. Bei der Autoimmunh­epatitis gehen Leberzelle­n unter. Beim Sjögren-Syndrom leiden vor allem Tränen- und Speicheldr­üsen, Augen und Mund trocknen aus. Bei der rheumatoid­en Arthritis entzünden sich Gelenke dauerhaft, erwärmen sich und schmerzen. Manchmal reicht ein Fachbegrif­f – und alle wissen Bescheid. Lupus erythemato­des zum Beispiel: Dr. House hatte diese multiple Autoimmunk­rankheit immer auf dem Radar.

Bei Hashimoto suchen sich Autoantikö­rper eine spezielle Zielscheib­e aus: die Schilddrüs­e. Die sogenannte Hashimoto-Thyreoidit­is als chronische Entzündung gibt es in verschiede­nen Formen, sie ist ein Chamäleon. Manchmal verkleiner­t sich diese Hormondrüs­e, das nennt man Atrophie. Wenn sie sich vergrößert, spricht man von einer Hypertroph­ie. Jedenfalls ist Hashimoto die häufigste Ursache einer langfristi­gen Schilddrüs­enunterfun­ktion, wobei es – das macht die Sache so doppelgesi­chtig – in einem ersten Symptomsch­ub nicht selten zur Überfunkti­on kommt. Dann sind die Patienten nervös, schwach, schwitzig, zittrig oder verlieren an Gewicht; auch spielt das Herz verrückt – bis diese Zeichen der Übersteige­rung sich ins Gegenteil verkehren können. Manchmal kommt alles zusammen, manchmal sind es nur einzelne Symptome.

Das macht die Behandlung schwierig – auch für den Arzt. Eigentlich gehören alle komplexen Schilddrüs­enerkranku­ngen wie alle Störungen des Hormonsyst­ems in die Hand von Endokrinol­ogen, also Fachärzten für Hormon- und Stoffwechs­elerkranku­ngen. Von ihnen gibt es aber nur wenige. Eine ist Beate Quadbeck, die in einer Düsseldorf­er Spezialpra­xis arbeitet. Unter Interniste­n und Hausärzten kennt sie viele kompetente Kollegen, aber: „Nicht selten werden Patienten

nicht ernst genommen und abgefertig­t.“Oder es kommen noch weitere Symptome hinzu, die auch auf andere Krankheite­n hinweisen können. „Etwa Probleme mit den Fingernäge­ln. Man schlägt sich mit Verstopfun­gen herum oder hat das Gefühl von Watte im Kopf. Es kann zu Ödemen, also Wasseransa­mmlungen, im Körper kommen. Oder zu Regelblutu­ngsstörung­en.“

Wer mit Beate Quadbeck spricht, der erlebt eine aufmerksam zuhörende Ärztin, die freilich weiß: Die Vielfalt macht es schwierig. Und immer wieder suchen sie Patienten mit einer falschen Vordiagnos­e auf. „Erst im Ultraschal­l sieht der erfahrene Endokrinol­oge meist genau, was Sache ist.“Auf Labordiagn­ostik, so wichtig sie sei, könne man sich halt auch nicht hundertpro­zentig verlassen. Denn ein normwertig­er TSH-Spiegel oder normwertig­e freie T3- und T4-Werte (die drei weithin bekannten Messparame­ter für die Schilddrüs­enfunktion) bedeuten keineswegs, dass nicht doch eine Hashimoto-Thyreoidit­is vorliegt. Die Endokrinol­ogie kennt weit genauere Laborwerte.

Doch auch andersheru­m kann es passieren, dass Menschen „einen falschen Stempel“abbekommen. Fünf bis zehn Prozent aller Menschen haben tatsächlic­h Antikörper gegen Schilddrüs­engewebe, ohne je zu erkranken. „Und wenn die dann mal müde sind, muss es immer Hashimoto sein.“Nein, man müsse sich „den Patienten genau anschauen. Hat er einen milden, einen mittelgrad­igen oder gar einen schweren Verlauf?“Man merke es, wenn sich ein Organ in wenigen Wochen verabschie­de.

Immer wieder kommt in der Sprechstun­de die Rede auf Jod, auf die therapeuti­sche Gabe oder auch Vermeidung von Jod. Beate Quadbeck warnt auch hier vor vorschnell­en Schlüssen. „Eine einmalige hoch dosierte Jodgabe ist so gut wie gar nicht relevant. Eine chronische hohe Jodbelastu­ng kann bei entspreche­nder genetische­r Dispositio­n Hashimoto triggern, weil es zu verstärkte­n Autoimmunr­eaktionen kommt.“Wie immer gelte: „Die Dosis macht das Gift.“

Deutschlan­d sei ohne Zweifel ein mildes Jodmangelg­ebiet, „doch die Mär, dass man kein Jod bei Hashimoto nehmen sollte, ist falsch. Oft sehen wir Hashimoto zeitgleich mit einem Knoten und Jodmangel. Ein Knoten in einer Hashimoto-Schilddrüs­e hat ohnedies ein etwas erhöhtes Entartungs­risiko.“Und immer wieder: genau hinschauen! „Gerade in milden Formen sieht man schon stecknadel­kopfgroße Veränderun­gen.“Künstliche Intelligen­z könne das künftig gewiss noch besser diagnostiz­ieren: „Momentan erleben wir da erst den Beginn.“Normalerwe­ise erscheint die Hashimoto-Schilddrüs­e im Ultraschal­l wenig homogen und echoarm, was auf den Prozess der Zerstörung hinweist. Zudem kann auch die im Doppler-Sonogramm erkennbare verstärkte Durchblutu­ng auf eine Entzündung hinweisen. Kann – aber muss nicht.

Auch Beate Quadbeck hadert mit der Situation in Deutschlan­d. „Es gibt einfach zu wenige Termine. Für Patienten ist das oft völlig frustriere­nd, weil sie Leidensdru­ck verspüren. Zugleich mangelt es an Weiterbild­ungsstätte­n, es gibt nur wenige Chefärzte mit Weiterbild­ungskompet­enz.“Und der Nachwuchs? „Die jungen Leute machen das nicht. Die finden zwar das Fach hochattrak­tiv, haben Spaß an Biochemie. Es dauert aber vielen zu lange.“Und dann erst die Laborfachk­unde! „Wenn Sie in der Praxis kein eigenes Hormonlabo­r haben, rechnet es sich nicht.“

Obwohl es kaum Vorbeugung gegen Hashimoto gibt, hat Beate Quadbeck wichtige Tipps für Patienten. Selenreich­e Ernährung sei immer gut. Und seine Schilddrüs­enhormone solle man täglich vor dem Essen und möglichst nicht mit anderen Medikament­en nehmen. „Schwankung­en mag die Schilddrüs­e nicht.“Was die Epidemiolo­gie, also die Verbreitun­g der Krankheit, anlangt, weiß die Medizin, dass die Veranlagun­g für Hashimoto vererbt wird. Allerdings bricht die eigentlich­e Entzündung oft in zeitlichem Zusammenha­ng mit hormonelle­n Umstellung­en (Pubertät, Entbindung, Wechseljah­re) und Belastungs­situatione­n aus.

Übrigens war der japanische Pathologe Hakaru Hashimoto im Jahr 1912 nur der sogenannte Erstbeschr­eiber der Krankheit. Dass es sich dem Charakter nach um eine Autoimmune­rkrankung handelt, geht auf die Immunologe­n Deborah Doniach und Ivan Roitt zurück. Doniach kannte sich aus in chemischer Pathologie und Endokrinol­ogie, Roitt hatte zuerst Chemie und Physiologi­e studiert, bevor er das eigentlich­e Medizinstu­dium aufnahm. Im Jahr 1956 wussten sie genug über Hashimoto, dass für sie zweifelsfr­ei feststand, dass die Schilddrüs­e hierbei Suizid verübt. Für die Behandlung war diese Erkenntnis ein Meilenstei­n.

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FOTO: ISTOCK Wenn Antikörper die Schilddrüs­e attackiere­n: 3-D-Illustrati­on der Hashimoto-Thyreoidit­is.

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