Dortmunds Dilemma mit dem Saisonfazit
Wenige Wochen vor Ende der Spielzeit ist immer noch völlig unklar, ob der BVB sie als großen Erfolg oder als nächsten Rückschlag bewerten soll.
In Dortmund wohnen diese Woche ganz viele Bayern- und Bayer-Fans. Das liegt an der Uefa und ihren Regeln. Danach fließen für jeden Punkt, den ein deutscher Klub in einem internationalen Wettbewerb sammelt, 0,143 Zähler aufs Konto der Bundesliga. Sollte sie in diesem Wettbewerb der Verbände am Ende der Saison mindestens den zweiten Platz belegen, bekommt sie im Sommer fünf Startplätze in der Champions League. Zurzeit liegt Deutschland mit 16,786 Punkten tatsächlich hinter Italien (18,428) auf Rang zwei. Die Engländer (16,750) sind allerdings dicht dran. Deswegen drücken Borussia Dortmunds Anhänger Bayern München im Champions League-Rückspiel gegen Arsenal London ebenso heftig die Daumen wie Bayer Leverkusen im Rückspiel der Europa League bei West Ham United.
Ganz nebenbei können die Dortmunder sich selbst etwas Gutes tun. Ein Erfolg im Rückspiel gegen Atlético Madrid (Dienstag, 21 Uhr) mit zwei Toren Unterschied würde nach der 1:2-Niederlage im Hinspiel nicht nur ins Halbfinale der Champions League führen, sondern auch das Konto der Bundesliga bereichern. Beides kann Dortmund gut gebrauchen, denn fünf Spieltage vor dem Saisonende liegt die Borussia auf Platz fünf, weil sie im Vergleich mit den punktgleichen Leipzigern die schlechtere Tordifferenz hat.
Die Situation für Deutschlands zweitgrößten Klub ist Mitte April 2024 alles andere als eindeutig, niemand weiß derzeit, wo die Reise hingeht. Sollten die Engländer in der Jahreswertung an Deutschland vorbeiziehen, muss das teure Team („Stand jetzt“, wie die Sportvorsprecher sagen) im nächsten Jahr in der längst nicht so lukrativen Europa League durchgefüttert werden.
Wenn die westfälische Borussia sich nicht auf Rechenspiele verlassen will, muss sie den Wettlauf mit RB Leipzig gewinnen. Der Jahrestrend spricht zumindest nicht dagegen. 29 Punkte holte der BVB 2024, Leipzig nur 23. Und die Dortmunder fühlen sich nach dem in langer Unterzahl und mit einigen Verletzungen bezahlten 2:1 in Mönchengladbach bereit. Die Blessuren und der Spielverlauf im Borussen-Duell sei „Teil des Tests“, wie Trainer Edin Terzic das nannte, „den wir trotzdem bestanden haben“.
Den Champions-League-Test im Hinspiel bei Atlético hat der BVB allerdings erst nach mächtigen Anlaufschwierigkeiten bestanden. Mindestens eine halbe Stunde lang scheuchte Madrid seinen Gegner derart über den Platz, dass es Terzic und seinen Kollegen Nuri Sahin und Sven Bender aus dem TrainerTriumvirat ziemlich ungemütlich wurde auf der Bank. Erst als der zur
Pause eingewechselte Julian Brandt dem Offensivspiel Struktur und Schwung gab, waren die Dortmunder ein ebenbürtiger Gegner – in der Schlussphase sogar noch mehr als das, weil Atlético die Luft ausging. Daran dachte Terzic, als er feststellte: „Wir haben gespürt, wie man ihnen Probleme bereiten kann.“
Das gilt jedoch auch umgekehrt. Coach Diego Simeone, kampf- und laufstark wie sein Team, wird die Eindrücke aus der ersten Halbzeit in sein taktisches Konzept für das Rückspiel einfließen lassen. Er setzt auf den im Hinspiel kaum zu fassenden Antoine Griezmann und dessen Reichtum an Ideen und fußballerischer Klasse. Und er wird ein Team auf den Platz schicken, das der Dortmunder Defensive auf den Pelz rückt. Das führte zu frühen Gegentoren und reichlich Konfusion beim BVB. Darüber hinaus beherrschen Atlético und der argentinische Trainer Simeone das ganz große Einmaleins des gern auch mal ein bisschen bösartigen Spiels. Mit Samthandschuhen werden sie ihren Gegner jedenfalls nicht bearbeiten, das ist nicht ihr Stil.
Dennoch ist die Ausgangslage für die Borussia nicht so schlecht, wie sie nach 32 Minuten des Hinspiels und einem 0:2-Rückstand aussah. Dortmunds Fans werden in Deutschlands größtem Fußballstadion
sicher ordentlich Krach machen und ihre Elf in eine Aufholjagd schicken. Manche erinnern sich bestimmt voller Entzücken an das Viertelfinale 2013. Da räumte der BVB den FC Malaga durch zwei Tore in der Nachspielzeit durch Marco Reus und Felipe Santana mit 3:2 aus dem Rennen. Nach Santanas Siegtreffer hatte es den Anschein, als werde die riesige Betonschüssel gleich abheben.
Es war nicht nur ein Spiel für alle Jahresrückblicke, sondern auch das letzte Mal, dass Borussia Dortmund ins Halbfinale kam. Nicht einmal das große Real Madrid konnte die Westfalen vor elf Jahren aufhalten. Vier Treffer von Robert Lewandowski führten zum 4:1 im Hinspiel, nach dem 0:2 in Madrid stand der BVB im Finale. Im Londoner Wembleystadion scheiterte er mit 1:2 an Bayern München. Das Finale 2024 wird übrigens wieder in London gespielt.