Hamlet im Ukraine-Krieg
Eigentlich wollte das Left Band Theatre aus Kiew das Shakespeare-Stück in seinem Heimatland auf die Bühne bringen, dann griff Russland an. Nun zeigt das Ensemble „HA*L*T“in Düsseldorf – eine Inszenierung ohne die titelgebende Figur.
Hamlet geht immer. In Kriegs- und Krisenzeiten aber gewinnt das Werk an Wucht und Dringlichkeit. Erzählt das Shakespearsche Schauspiel doch von Verrat, von Intrige, Lug und Trug, Mord und Machtkampf. Solche Motive sind quasi Dauerbrenner in der Menschheitsgeschichte, doch immer dann, wenn solche Geister nicht nur im Verborgenen schlummern, sondern geweckt und blutig tätig werden, gerät die Tragödie um den dänischen Prinzen zum Schlüssel einer brutalen Gegenwart.
So taugt der Stoff auch als Folie für den Überfall Russlands auf die Ukraine vor inzwischen mehr als zwei Jahren, für den Beginn dieses Krieges auf europäischem Boden. Die Frage, was wohl William Shakespeare (1564–1616) zu solchen Aktualisierungen seines Königstücks sagen würde, ist bei der Inszenierung des Left Bank Theatre aus Kiew nicht ganz unberechtigt. Zumal das in deutscher Sprache etwas holprig übertitelte Stück streng genommen eine Mogelpackung ist: Wo Hamlet draufsteht, ist diesmal nur wenig Hamlet drin.
Wobei gesagt werden muss, dass es Hamlet diesmal auch nur zu einem verunstalteten Titel schaffte: „HA*L*T“. Hinter diesem Wortkonstrukt steht die Geschichte des Theaters aus Kiew. Am Tag des Überfalls durch Russland am 24. Februar 2022 sollten dort die Proben zu Hamlet beginnen. Sogar Plakate waren schon gedruckt. Der Krieg, die Bomben, das Leid, die Lebensbedrohung Tag für Tag machten Hamlet dann unmöglich. Nicht aber das Spiel. Und so schrieb Regisseurin Tamara Trunova ein neues Stück, Hamlet ohne Hamlet, ohne Held, ohne Titelfigur. Sie strich das „Ich“(Me) im Titel, entfernte die beiden Buchstaben. Was blieb, war „HA*L*T“– ein Stück über eine Inszenierung, die der Krieg unterbrach.
Was wie eine postmoderne Kopfgeburt klingt, wurde zu einem der Höhepunkte beim großen Ukraine-Festival am Düsseldorfer Schauspielhaus. Klug, schnell, still, schrill und witzig, fast immer überraschend. So beginnt es mit einem Publikumsgespräch nach einer scheinbaren Hamlet-Premiere. Ein Schauspieler betritt die Bühne, überbrückt die Zeit mit freundlichen Floskeln, bis die anderen nach und nach aus der Garderobe kommen.
Glücklich, erschöpft, professionell. Wie Gift tröpfelt es allmählich in die Köpfe der Fünf, dass es die Premiere vielleicht gar nicht gegeben hat und alles nur – ja, was? – ein Traum gewesen ist? Selbst die aus dem Zuschauerraum angereichten Orchideen werden desillusioniert wieder zurückgegeben. Wer träumt da? Und von wem wird geträumt?
Es folgt ein unglaublicher Totentanz. Mit dem Versuch, jetzt wenigstens ein Konzert mit ukrainischen Volksliedern zu geben. Gelingt anfangs. Wird aber bald zur gespenstischen Pantomime. Beim traditionellen Reigen mischen sich in die grellen Jodler beißend die Namen gefallener Künstler, Schreie des Leids. Bestenfalls werden ein paar Shakespeare-Sätze noch zitiert, so weit die Textkenntnis reicht. So weit der Text noch trifft. Wo nicht, geraten die Spieler ins Stammeln, suchen nach Zitaten und improvisieren ihren eigenen Text. Ein blutroter, dann wieder verschneiter Märchenwald entführt das Stück in Variationen der Fantasie; ein unheimliches Gespenst, das sich den Schauspielern unerträglich langsam in zuckenden Bewegungen nähert, hat seinen Auftritt.
Und immer wieder die bohrenden Fragen: Was ist, was darf Kunst? Was kann sie? Ist sie etwa auch eine Waffe?. So heißt es mehr fragend als überzeugend. Werden die Stimmen der Künstler etwa auch in den Schützengräben gehört? Und welches Privileg darf man als ExilKünstler für sich in Anspruch nehmen, weit weg vom Krepieren an der Front? Was geschieht mit der Identität eines Künstlers, wenn er zum Geflüchteten wird? Die zynische Antwort darauf: Geflüchtete machen besser immer ein trauriges Gesicht und verstecken ihr iPhone. Wie soll man dem Eindruck entgegentreten, dass es so schlimm in der Ukraine nicht sein könne, wenn dort weiterhin Theater gespielt werden kann?
„HA*L*T“ist nicht nur ein Klagelied über Krieg und Versehrungen, das Stück ist selbst versehrt. Ohne Hamlet. Auch ohne jenen Schauspieler, der für die Rolle des Fortinbras vorgesehen war. Sein Stuhl auf karger Bühne bleibt leer, sein Auftritt ist eine Videobotschaft von der Front. Volodymyr Kravchuk ist inzwischen Soldat, steht ruhig und gefasst im Schützengraben: „Weil Nichtstun ein Verbrechen ist.“
Die Welt ist aus den Fugen. So gefährlich der kollektive Traum von einer Kunst in einer ringsum friedlichen Welt sein kann, so brutal ist das Erwachen. „HA*L*T“ist ein Stück im Stück, ein Spiel über das Spielen, eine Fantasie darüber, dass es vielleicht doch keinen Krieg geben könnte. „HA*L*T“erzählt von einer alternativen Wirklichkeit, die nicht eingelöst werden kann. Was bleibt am Ende? Zweifel. Die Ungewissheit über unser künftiges Leben. Aber auch die Gewissheit, dass das Spiel in Träumen und anderen Welten uns bisweilen die Augen öffnet.
Was hätte Shakespeare dazu gesagt? Höchstwahrscheinlich hätte er sich sehr wohl verstanden gefühlt.