Macrons Ruckrede
Sieben Jahre nach seinem viel beachteten Auftritt an der Pariser Universität Sorbonne hält der französische Präsident am selben Ort eine zweite Grundsatz-Ansprache. Sie ist voller Ermunterungen, enthält aber auch eine düstere Warnung.
Spätestens seit seiner Analyse vom angeblichen „Hirntod“der Nato ist Emmanuel Macron für seine aufrüttelnden Botschaften bekannt. Es war deshalb nicht überraschend, dass der französische Präsident seine zweite europapolitische Rede am Donnerstag erneut mit einer dramatischen Warnung begann. „Unser Europa kann sterben“, sagte er in der Pariser Universität Sorbonne, wo er bereits 2017 seine erste viel beachtete Ansprache zu Europa gehalten hatte. Die Zukunft des Kontinents hänge von seinen Bewohnerinnen und Bewohnern ab, die eine Entscheidung zu treffen hätten. „Und diese Wahl wird jetzt getroffen.“Gemeint war nicht nur die Europawahl im Juni, sondern auch eine Weichenstellung für oder gegen mehr europäische Souveränität, die Macron bereits vor sieben Jahren angemahnt hatte.
Ein Art Elektroschock, wie der Präsident ihn wenige Monate nach seiner Wahl 2017 ausgelöst hatte, ging diesmal allerdings nicht von seiner fast zweistündigen Ansprache aus. Wie erwartet zog Macron zunächst eine Bilanz, die sich vor allem auf die Krisen der vergangenen Jahre bezog: die Pandemie, den Brexit und den Ukraine-Krieg. „Unser Europa hat Entscheidungen getroffen und ist vorangekommen.“Prominent erwähnte er die deutschfranzösische Zusammenarbeit beim Corona-Wiederaufbaufonds über rund 800 Milliarden Euro, der durch gemeinsame Schulden finanziert worden war. Auch den „Green Deal“zur Klimaneutralität, Industrieprojekte wie den deutsch-französischen Kampfpanzer und den Migrationspakt listete er als Erfolge auf. Dennoch sei die EU oft zu langsam und nicht ehrgeizig genug.
Macron sprach sich dafür aus, ein mächtiges Europa aufzubauen, das vor allem seine eigene Verteidigung stärke. „Wir müssen ein glaubwürdiges europäisches Verteidigungskonzept schaffen“, forderte der 46-Jährige. Er bekannte sich zu seinen Äußerungen Ende Februar, als er bei einer Ukraine-Unterstützerkonferenz die Entsendung von Bodentruppen nicht ausgeschlossen hatte: „Wir stehen einem enthemmten Land gegenüber.“Für die Sicherheit Europas sei es unabdingbar, dass Russland den Krieg nicht gewinne. In den nächsten Wochen will Macron alle Partner zu einer gemeinsamen Verteidigungsinitiative einladen.
Konkret schlug er vor, eine europäische Militärakademie, eine schnelle Eingreiftruppe und eine eigene Cyberabwehr zu schaffen. Außerdem müsse Europa seine Rüstungsindustrie hochfahren: „Wir müssen schneller und europäischer produzieren.“Zur Finanzierung sollten auch gemeinsame europäische Anleihen möglich sein, die Deutschland allerdings ablehnt.
Auch eine wirksame Kontrolle der Außengrenzen und damit der Einwanderung dient laut Macron dazu, Europas Macht zu stärken: „Ohne Grenzen gibt es keine Souveränität.“Der britischen Lösung, Geflüchtete in Drittländer wie Ruanda abzuschieben, erteilte er dabei eine Absage: „Das ist eine Geopolitik des Zynismus, die unsere Werte verrät, neue Abhängigkeiten aufbaut und sich als völlig ineffizient erweist.“
Um die EU auch wirtschaftlich voranzubringen, schlug Macron vor, Regeln zu vereinfachen und Investitionen anzukurbeln. Außerdem müsse die gemeinsame Industriepolitik verstärkt werden. „‚Made in Europe‘ ist ein großer Punkt, bei dem Deutschland und Frankreich übereinstimmen.“Olaf Scholz begrüßte Macrons Rede im Kurznachrichtendienst X. „Frankreich und Deutschland wollen gemeinsam, dass Europa stark bleibt. Deine Rede enthält gute Impulse, wie uns das gelingen kann“, schrieb der Bundeskanzler. Im Gegensatz zu Bundeskanzlerin Angela Merkel vor sieben Jahren reagierte Scholz damit schnell auf Macrons Vorschläge.
Die französische Opposition warf dem Präsidenten vor, mit seinem Auftritt in den Europawahlkampf einzugreifen. Die Präsidentenpartei Renaissance liegt mit rund 17 Prozent in den Umfragen weit abgeschlagen hinter dem rechtspopulistischen Rassemblement National, der auf gut 30 Prozent kommt. Der Präsident kritisierte die Partei von Marine Le Pen, ohne sie zu nennen. Die Europagegner seien nicht mehr offen antieuropäisch: „Sie schlagen nicht mehr vor, das Haus zu verlassen, sondern wollen die Regeln der Hausgemeinschaft ändern, nicht mehr investieren und die Miete nicht mehr bezahlen.“Die Antwort auf diese Rhetorik sei nicht Zurückhaltung, sondern Wagemut.
In den nächsten Wochen dürfte Macron sich erneut zu Wort melden, beispielsweise mit einem Wahlkampfauftritt an der Seite seiner Spitzenkandidatin Valérie Hayer. Auch seinen Staatsbesuch Ende Mai in Deutschland dürfte er nutzen, um für sein europäisches Projekt zu werben.