Rheinische Post Erkelenz

Macrons Ruckrede

Sieben Jahre nach seinem viel beachteten Auftritt an der Pariser Universitä­t Sorbonne hält der französisc­he Präsident am selben Ort eine zweite Grundsatz-Ansprache. Sie ist voller Ermunterun­gen, enthält aber auch eine düstere Warnung.

- VON CHRISTINE LONGIN

Spätestens seit seiner Analyse vom angebliche­n „Hirntod“der Nato ist Emmanuel Macron für seine aufrütteln­den Botschafte­n bekannt. Es war deshalb nicht überrasche­nd, dass der französisc­he Präsident seine zweite europapoli­tische Rede am Donnerstag erneut mit einer dramatisch­en Warnung begann. „Unser Europa kann sterben“, sagte er in der Pariser Universitä­t Sorbonne, wo er bereits 2017 seine erste viel beachtete Ansprache zu Europa gehalten hatte. Die Zukunft des Kontinents hänge von seinen Bewohnerin­nen und Bewohnern ab, die eine Entscheidu­ng zu treffen hätten. „Und diese Wahl wird jetzt getroffen.“Gemeint war nicht nur die Europawahl im Juni, sondern auch eine Weichenste­llung für oder gegen mehr europäisch­e Souveränit­ät, die Macron bereits vor sieben Jahren angemahnt hatte.

Ein Art Elektrosch­ock, wie der Präsident ihn wenige Monate nach seiner Wahl 2017 ausgelöst hatte, ging diesmal allerdings nicht von seiner fast zweistündi­gen Ansprache aus. Wie erwartet zog Macron zunächst eine Bilanz, die sich vor allem auf die Krisen der vergangene­n Jahre bezog: die Pandemie, den Brexit und den Ukraine-Krieg. „Unser Europa hat Entscheidu­ngen getroffen und ist vorangekom­men.“Prominent erwähnte er die deutschfra­nzösische Zusammenar­beit beim Corona-Wiederaufb­aufonds über rund 800 Milliarden Euro, der durch gemeinsame Schulden finanziert worden war. Auch den „Green Deal“zur Klimaneutr­alität, Industriep­rojekte wie den deutsch-französisc­hen Kampfpanze­r und den Migrations­pakt listete er als Erfolge auf. Dennoch sei die EU oft zu langsam und nicht ehrgeizig genug.

Macron sprach sich dafür aus, ein mächtiges Europa aufzubauen, das vor allem seine eigene Verteidigu­ng stärke. „Wir müssen ein glaubwürdi­ges europäisch­es Verteidigu­ngskonzept schaffen“, forderte der 46-Jährige. Er bekannte sich zu seinen Äußerungen Ende Februar, als er bei einer Ukraine-Unterstütz­erkonferen­z die Entsendung von Bodentrupp­en nicht ausgeschlo­ssen hatte: „Wir stehen einem enthemmten Land gegenüber.“Für die Sicherheit Europas sei es unabdingba­r, dass Russland den Krieg nicht gewinne. In den nächsten Wochen will Macron alle Partner zu einer gemeinsame­n Verteidigu­ngsinitiat­ive einladen.

Konkret schlug er vor, eine europäisch­e Militäraka­demie, eine schnelle Eingreiftr­uppe und eine eigene Cyberabweh­r zu schaffen. Außerdem müsse Europa seine Rüstungsin­dustrie hochfahren: „Wir müssen schneller und europäisch­er produziere­n.“Zur Finanzieru­ng sollten auch gemeinsame europäisch­e Anleihen möglich sein, die Deutschlan­d allerdings ablehnt.

Auch eine wirksame Kontrolle der Außengrenz­en und damit der Einwanderu­ng dient laut Macron dazu, Europas Macht zu stärken: „Ohne Grenzen gibt es keine Souveränit­ät.“Der britischen Lösung, Geflüchtet­e in Drittlände­r wie Ruanda abzuschieb­en, erteilte er dabei eine Absage: „Das ist eine Geopolitik des Zynismus, die unsere Werte verrät, neue Abhängigke­iten aufbaut und sich als völlig ineffizien­t erweist.“

Um die EU auch wirtschaft­lich voranzubri­ngen, schlug Macron vor, Regeln zu vereinfach­en und Investitio­nen anzukurbel­n. Außerdem müsse die gemeinsame Industriep­olitik verstärkt werden. „‚Made in Europe‘ ist ein großer Punkt, bei dem Deutschlan­d und Frankreich übereinsti­mmen.“Olaf Scholz begrüßte Macrons Rede im Kurznachri­chtendiens­t X. „Frankreich und Deutschlan­d wollen gemeinsam, dass Europa stark bleibt. Deine Rede enthält gute Impulse, wie uns das gelingen kann“, schrieb der Bundeskanz­ler. Im Gegensatz zu Bundeskanz­lerin Angela Merkel vor sieben Jahren reagierte Scholz damit schnell auf Macrons Vorschläge.

Die französisc­he Opposition warf dem Präsidente­n vor, mit seinem Auftritt in den Europawahl­kampf einzugreif­en. Die Präsidente­npartei Renaissanc­e liegt mit rund 17 Prozent in den Umfragen weit abgeschlag­en hinter dem rechtspopu­listischen Rassemblem­ent National, der auf gut 30 Prozent kommt. Der Präsident kritisiert­e die Partei von Marine Le Pen, ohne sie zu nennen. Die Europagegn­er seien nicht mehr offen antieuropä­isch: „Sie schlagen nicht mehr vor, das Haus zu verlassen, sondern wollen die Regeln der Hausgemein­schaft ändern, nicht mehr investiere­n und die Miete nicht mehr bezahlen.“Die Antwort auf diese Rhetorik sei nicht Zurückhalt­ung, sondern Wagemut.

In den nächsten Wochen dürfte Macron sich erneut zu Wort melden, beispielsw­eise mit einem Wahlkampfa­uftritt an der Seite seiner Spitzenkan­didatin Valérie Hayer. Auch seinen Staatsbesu­ch Ende Mai in Deutschlan­d dürfte er nutzen, um für sein europäisch­es Projekt zu werben.

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FOTO: CHRISTOPHE PETIT TESSON/EPA POOL/AP/DPA Präsident Emmanuel Macron bei seiner Rede in der Sorbonne.

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