Die Zauberin des Erzählens ist tot
Im Alter von 92 Jahren ist die kanadische Literaturnobelpreisträgerin Alice Munro gestorben.
Ein persönliches Bekenntnis aus vollem Herzen: Alice Munro war eine der größten und bedeutendsten Erzählerinnen unserer Zeit. Der Literaturnobelpreis an sie war so unstrittig und bejubelt wie bei kaum einem anderen Autor, dem diese hohe Stockholmer Ehrung zuteilwurde. 2013 war das und vielleicht ein wenig spät. Aber was heißt das schon in der Literatur? Dem Bekenntnis folgt die Trauer über die Nachricht: Alice Munro ist tot. Tröstend vielleicht, dass sie 92 Jahre alt werden und am Montag – nach langer Krankheit – daheim sterben dufte, also zu Hause in Port Hope in der kanadischen Provinz Ontario.
In Ontario wurde sie 1931 auch geboren, lebte dort vor allem in ihren letzten Jahren zurückgezogen. Dass die Kanadierin ihre ersten Texte erst mit 40 veröffentlichte, dass sie zeitlebens nur Erzählungen mit maximal 30 Seiten schrieb, nie aber einen Roman, und sich selbst kokettierend gerne als „schreibende Hausfrau“beschrieb, der die Zeit für längere Texte fehlte, schien das Nobelpreiskomitee nachhaltig bei seiner Entscheidungsfindung verunsichert zu haben. Und das trotz vehementer und prominenter Fürsprecher wie der des US-amerikanischen Romanciers Jonathan
Franzen. Auch ist sie oft verglichen worden mit den großen Autoren dieser Welt – etwa mit Tschechow.
Dabei hätte man einfach Munros Erzählungen lesen müssen, funkelnde Meisterwerke allesamt, Kristalle der Sprache. In den Erzählungen von Alice Munro ist kein Wort, keine Silbe zu viel. Alles gehört an seinen Platz, ist glasklar und doch geheimnisvoll, ist oft nur ein kleiner Ausschnitt unseres Alltags und doch das ganze Leben. Jede Erzählung von ihr scheint die ganze Welt verschluckt zu haben. Auch darum hatte sie es gar nicht nötig, zu einer größeren Form zu greifen.
Munros Prosa zu lesen, bedeutet immer, der Welt in unverstellter Sprache zu begegnen. Mit einer Verknappung, die nichts anderes als der Beleg dafür ist, dass die, die diese Worte gefunden hat, auch versteht, dass sie weiß, worüber sie schreibt. In ihren Geschichten – manche nur ein paar Seiten lang – muss nie mehr gesagt werden. Der Leser vermisst nie etwas. Genau das ist ihre unvergleichliche Kunst: das eine richtige Wort zu treffen und den einzig möglichen Satz zu finden. In dieser Wahrheit gründet der Zauber ihres Erzählens.
Das alles kann man zwar wortreich beschreiben, doch besser ist es, kleine Prosaperlen vorzuführen. Wie etwa ihre Erzählung „Gesicht“mit diesen paar Worten anhebt: „Ich bin davon überzeugt, dass mein Vater mich nur ein einziges Mal ansah, betrachtete, besichtigte. Danach nahm er als gegeben hin, was da war.“Oder der schaurig graue, abgrundtiefe Beginn von „Kinderspiel“: „Ich nehme an, bei uns zu Hause wurde darüber geredet, hinterher. Wie traurig, wie schrecklich. (Meine Mutter).“
Wer ist nicht unmittelbar in diesen Geschichten gefangen, aber nicht, weil sie so sind, wie sie sind, sondern weil sie uns eine Welt zu erkennen geben, die wir nur zu kennen glauben. Wir sind Teil ihrer Erzählungen, und das ist das Beste, was Leser erleben können.
Die erzählte Welt der Alice Munro ist keine Kunstwelt, nie etwas Konstruiertes. Zwar wird sie gerne eine perfekte Stilistin genannt, doch klingt das viel zu kalt und ist auch darum nicht richtig.
Munro führt uns eine Welt aus Liebe und Hass vor, aus dem Gleichklang des Alltags und der Einsamkeit; es gibt darin verständliche Selbstmorde und unverständliches Glück. Krankheiten kommen, manche gehen, manchmal zerstören sie auch.
Alice Munro kann sarkastisch erzählen und ironisch – aber: Sie psychologisiert nie; sie erzählt, geduldig und genau. Und das braucht seine Zeit. Bisweilen sitzt sie an einer einzigen Erzählung ein ganzes Jahr, sagte sie einmal. Sie weiß, warum. Und die Leser wissen oder ahnen es – zumindest nach der Lektüre.
Einige Zeit nach dem Literaturnobelpreis sagte sie so typisch lakonisch: „Ich möchte, dass meine Geschichten etwas über das Leben erzählen.“Wieder so ein kleiner und doch großer Satz. Was er bedeuten könnte, hat die Jury des Man Booker International Prize einst treffend formuliert: „Alice Munro zu lesen bedeutet, jedes Mal etwas zu verstehen, worüber man noch niemals vorher nachgedacht hat.“
Mit der Nachricht von Munros Tod hat die literarische Welt den Atem angehalten. Sie wird bald wieder weiteratmen, weiterlesen – und natürlich auch ihre Texte, weil ohne ihre Erzählungen Weltliteratur ärmer wäre. Wir Leser haben es in der Hand, Alice Munro unsterblich werden zu lassen.