„Der Hund nimmt die Patienten so, wie sie sind“
Claire ist 13 Jahre alt. Seit ihr ein Hirntumor entfernt wurde, hat sie viele körperliche Defizite. Die ausgebildete Therapiehündin Lucy hilft dem Mädchen, seinen Zustand zu verbessern. Ergotherapeutin Julia Bien erklärt, worauf es bei einer tiergestützte
MÖNCHENGLADBACH In die Praxis für Ergotherapie von Julia Bien in Winkeln fahren Katja Korte und ihre Tochter Claire einmal in der Woche. Eine dreiviertel Stunde trainiert Bien dann mit dem Mädchen, dessen Zustand zu verbessern und seine motorischen Fähigkeiten beizubehalten. Claire wurde im Juli 2020 ein gutartiger Hirntumor entfernt, der sich direkt am Hirnstamm gebildet hatte.
„Sie hat deswegen sehr viele körperliche Defizite“, sagt Claires Mutter Katja Korte. So sind Claires Sehnen und Bänder verkürzt, sie hat eine Halbseitenlähmung links. Weil sie auf dieser Seite ihres Körpers ein vermindertes Gefühl hat, benutzt sie diesen Teil nicht, auch nicht die linke Hand oder den Arm. Das soll sie aber. Und Biens Dackelhündin Lucy unterstützt Claire bei ihren Übungen.
Seit eineinhalb Jahren wirft Claire der Hündin während des Trainings Plüschtiere, zu – mit links, versteht sich. Und der Hund bringt Claire die Tiere zurück. „Die Übung ist gut für Claires Koordination und Motorik“, erklärt Bien. Eines der Stofftiere, eine Raupe, hat verschiedene Verschlüsse, die Claire mit ihrer linken Hand immer wieder auf- und zumacht, um diese Bewegungen zu pflegen. Praktisch ist das Ganze auch, schließlich will Claire ja weiterhin die Knöpfe und Reißverschlüsse an ihrer Kleidung bedienen können.
Auch anhand von „Hundetrickkarten“wird Claires Beweglichkeit der linken Hand gefördert: „Bring“, „Platz“, „Dreh dich“– jedes Kommando hat seine eigene Karte. Zu den Kommandos muss Claire bestimmte Gesten machen: Wählt sie die Karte „Platz“aus, hält sie ihre Hand flach, bei „Sitz“hebt sie einen Finger. Hündin Lucy ist hochkonzentriert, macht alles voller Eifer mit. Nicht zuletzt, weil Claire ihr immer wieder Leckerlis gibt, wenn die Dackeldame etwas richtig gemacht hat. Es gäbe schon Verbesserungen, sagt Claires Mutter, das Mädchen achte jetzt darauf, dass es auch seine linke Hand nutzt. Doch die Fortschritte geschehen langsam. „Jede Therapie steht und fällt mit Motivation. Und Lucy motiviert Claire weiterzumachen“, so Bien.
Tierlieb war Claire immer schon, die Familie hat selbst zwei große Hunde. Immer wieder herzt die 13-Jährige die Dackeldame Lucy, die das Ganze offenkundig genießt. „Claire und Lucy beschäftigen sich spielerisch miteinander, das Mädchen sieht die Therapieeinheiten nicht als Arbeit an, sondern als pures Vergnügen, als Qualitätszeit mit Lucy“, sagt Bien.
Aufgrund der zahlreichen Leckerlis beim Training bekommt Lucy nur morgens eine kleine Mahlzeit, den Rest ihres Futters erhält sie in Form von Belohnungen für gute Arbeit. Schließlich soll die sechs Jahre alte Hündin ihr Gewicht von fünfeinhalb Kilogramm halten. Wie viele Jahre ein Hund einen solchen Job machen könne, komme immer auf die individuelle Verfassung des Hundes an, erklärt Bien.
Und welche Voraussetzungen muss ein Hund mitbringen, um als Therapiehund ausgebildet zu werden? „Der Hund muss Menschen lieben“, sagt die Therapeutin: „Und er muss lernwillig sein, neugierig, er muss etwas Neues lernen wollen, darf niemals aggressiv sein.“
Etwas ist der Ergotherapeutin besonders wichtig: „Der Hund muss nicht alles aushalten. Wenn er von etwas gestresst ist, nehme ich ihn aus dieser Situation heraus.“Bien stört es, wenn Menschen meinen, Therapiehunde müssten im Dauereinsatz sein. Bien hat 40 Patienten pro Woche, Lucy ist bei zwei bis drei von ihnen dabei. „Man darf den Hund nicht überfordern“, sagt Bien.
Das Entscheidende bei einem Therapiehund: „Er ist wertfrei, er nimmt die Patienten so, wie sie sind. Also haben die Kinder Vertrauen in die Tiere, die Mädchen und Jungen weinen, erzählen dem Dackel den Grund, weswegen sie traurig sind – eher als einem anderen Menschen“, so Bien. Sie setzt Lucy ein, wenn Kinder mit Angststörungen in die Praxis kommen, die kleinen Patienten Emotionen rauslassen wollen. Außerdem geht Bien mit Lucy in Kitas.
Es sind Kinder mit Autismus oder ADHS, denen die Hündin guttut. Auch Erwachsene können von der tiergestützten Therapie profitieren, zum Beispiel nach einem Schlaganfall.
Für die Ausbildung zum Therapiehund sei grundsätzlich jeder Hund geeignet, dessen Charakter für den Job passt. Von für die Aufgabe prädestinierten Rassen hält Bien nichts: Es komme auf die Persönlichkeit des Vierbeiners an. Und der Hund müsse in jedem Fall professionell ausgebildet werden, bevor er arbeiten darf. Einen Hund ohne Ausbildung als Therapiehund einzusetzen, stuft Bien „als gefährlich für alle Beteiligten“ein.
Lucy macht während der Trainingseinheit mit Claire immer wieder kurze Pausen, zieht sich zurück oder wirft eines der Plüschtiere in die Luft und reißt daran, wenn es zu Boden fällt. Auszeit für den Dackel. Dann kehrt der Hund zurück zu Claire, um mit ihr weiterzuspielen. „Gleich kommt das Abschiednehmen, das fällt meiner Tochter schwer“, sagt die Mutter. Kommende Woche wird Claire aber wiederkommen.