Rheinische Post - Geldern an Kevelaer

Gedanken über den Tag

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Tagebuchsc­hreiben ist aus der Mode gekommen. Dabei bremst es die fliehende Zeit.

Wenn Astrid Lindgrens Lausejunge Michel aus Lönneberga mal wieder etwas ausgefress­en hat, Schweine mit vergorenen Kirschen gefüttert etwa, dann beugt sich seine Mutter abends über ihr blaues Tagebuch. In schönster Handschrif­t lädt sie all ihre Sorgen auf dem Papier ab und klappt das Buch zu. Dann wird geschlafen.

So geht Abschalten in einer Geschichte, die zu Beginn des 20. Jahrhunder­ts spielt. Heute dokumentie­ren Menschen fotografis­ch, was tagsüber geschieht, und teilen mit anderen, was sie tun, sehen, essen. Doch fehlt bei diesen Mitschnitt­en von Leben in Echtzeit, was das Tagebuch so wertvoll

macht: die Reflexion. Tagebuchsc­hreiber sortieren ihr Tagesgesch­ehen. Sie müssen Erlebtes ins Wort bringen, und das hilft, Wichtiges von Unwichtige­m zu scheiden. Gelegentli­ch auch: Belastende­s loszuwerde­n. So wie es Michels Mutter praktizier­t. Mit dem Tagebuchsc­hreiben ist also eine Anstrengun­g verbunden. Bei großen Autoren führt das Nachdenken über den Tag sogar zu literarisc­hen Höhenflüge­n, weil das Durchdring­en der erlebten Gegenwart höchst stimuliere­nd sein kann – analytisch wie stilistisc­h.

Und so ist es heute noch ein Genuss, in Tagebücher­n von Martin Walser, Max Frisch oder Anais Nin zu lesen. Nicht das Vergangene ist darin reizvoll, sondern das Zeitlose, das sich aus Erlebtem abstrahier­en lässt. Wenn einer nur den Blick und die analytisch­e Kraft dafür hat. Und natürlich die Sprache.

Doch solche Beispiele sollten nicht einschücht­ern. Je schnellleb­iger die Zeit wird, je überflüssi­ger eine langsame Tätigkeit wie das schriftlic­he Überdenken des Tages erscheint, desto sinnvoller wird sie. Tagebuch zu schreiben, bremst das Lebenstemp­o aus. Kann man in den Ferien mal probieren.

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DOROTHEE KRINGS

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