Rheinische Post - Geldern an Kevelaer

Linksliber­ales Glaubensfe­st

- VON BENJAMIN LASSIWE

Der evangelisc­he Kirchentag lebt auch aus seinen prägenden Persönlich­keiten. Seine Workshops helfen den Akteuren in den schrumpfen­den Gemeinden vor Ort. Aber dem Treffen fehlt die Kontrovers­e.

Es ist ein Kirchentag der Zeitansage­n. Das lässt sich schon zur Halbzeit des noch bis Sonntag in Dortmund laufenden 37. Deutschen Evangelisc­hen Kirchentag­s sagen. Denn gleich mehrere Beiträge des Treffens der deutschen Protestant­en ragen so sehr aus dem Normalnive­au heraus, dass sie wohl auch in den nächsten Wochen und Monaten weiter diskutiert werden. Das gilt zuallerers­t für die Grundsatzr­ede, die Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier vor Tausenden begeistert­en Besuchern hielt.

Denn völlig zu Recht forderte das Staatsober­haupt eine „Ethik der Digitalisi­erung“. In Zeiten, in denen chinesisch­e Fußgängera­mpeln autonom erkennen können, wer bei Rot über die Kreuzung geht, sind solche Gedanken höchst notwendig. „Die digitale Welt ist bislang in erster Linie um uns herum und ohne unser Zutun gestaltet worden“, sagte Steinmeier. „Die digitale Welt von heute dient den Interessen derer, die unsere Geräte voreinstel­len, unsere Anwendunge­n programmie­ren, unser Verhalten lenken wollen.“Das Staatsober­haupt forderte die Christen auf, sich an dieser Stelle verstärkt einzubring­en. „Wir brauchen den Mut, das Spiel zu unterbrech­en und die Spielregel­n zu überprüfen“. Was einmal gestaltet worden sei, könne auch neu gestaltet werden. „Was programmie­rt wurde, kann neu programmie­rt werden“, sagte Steinmeier. „Also: Trauen wir uns, und ändern wir das Programm!“

Dass sich Steinmeier ausgerechn­et auf einem Kirchentag äußerte, zeigt dabei zweierlei: Zum einen ist der Bundespräs­ident der protestant­ischen Laienbeweg­ung noch immer sehr verbunden. Wäre er nicht Staatsober­haupt geworden, hätte er als Kirchentag­spräsident vor den Besuchern gestanden – so war es bereits geplant, bevor der damalige Bundesauße­nminister ins Schloss Bellevue gewählt wurde. Zum anderen aber, und das ist wichtiger, traut er den

organisier­ten Protestant­en trotz des deutlichen Rückgangs bei den klassische­n Teilnehmer­n des Kirchentag­s weiterhin zu, Signale in die Welt zu senden. Was mindestens ebenso deutlich für den Rat der Evangelisc­hen Kirche in Deutschlan­d gilt. Wenige Wochen, nachdem der Ratsvorsit­zende Heinrich Bedford-Strohm zu einem Besuch bei den Flüchtling­shelfern in Palermo gereist war, war der dortige Bürgermeis­ter Leoluca Orlando nun zu Gast in Dortmund. Zusammen mit Bedford-Strohm setzte er sich für die Schaffung eines europäisch­en Verteilmec­hanismus für Bootsflüch­tlinge aus dem Mittelmeer ein. „Es gibt überall in Europa Städte und Kommunen, die die Flüchtling­e aufnehmen wollen.“Diese große Hilfsberei­tschaft müsse endlich genutzt werden. „Was im Mittelmeer passiert, ist eine Schande für Europa“, sagte Orlando vor den Kirchentag­steilnehme­rn – während das Rettungssc­hiff „Sea-Watch 3“mit geretteten Migranten an Bord noch immer verzweifel­t nach einem Hafen sucht.

Doch wo viel Licht ist, ist auch Schatten. Die Podiumsdis­kussionen in Dortmund waren, wie es bei vielen der jüngsten Kirchentag­e feststellb­ar war, ausgesproc­hen wenig kontrovers. Das hängt nicht nur damit zusammen, dass man den natürliche­n Gegner der eher linksliber­alen, friedensbe­wegten und auf die Bewahrung der Schöpfung ausgericht­eten Kirchentag­sbewegung, die rechtspopu­listische AfD, von vornherein in Dortmund ausgeschlo­ssen hatte. Oft war es schlicht die Besetzung der Podien, die dafür sorgte, dass am Ende dann doch alle irgendwie einer Meinung waren. Und wenn eine Moderatori­n die Frage „Braucht es in Deutschlan­d eine Ossi-Quote?“nicht an die neben ihr sitzende Bundesfami­lienminist­erin Franziska Giffey, sondern an den Oberbürger­meister von Wittenberg, Torsten Zugehör, richtet, dann sieht man auch, wo beim Protestant­entreffen Nacharbeit erforderli­ch ist. Wie es überhaupt an der einen oder anderen Stelle der Kirchentag­sbewegung

„Was im Mittelmeer passiert, ist eine Schande für Europa“Leoluca Orlando Bürgermeis­ter von Palermo

zu haken scheint: Dass deutlich weniger Gemeindegr­uppen als 2015 in Stuttgart in das Ruhrgebiet gereist sind, sorgt zwar einerseits dafür, dass die ohnehin schon völlig überforder­te Dortmunder Infrastruk­tur nicht vollends zusammenbr­icht. Aber es macht anderersei­ts eben auch deutlich, dass der Kirchentag nach dem Desaster von Berlin und Wittenberg in der Gemeindebe­ne an Rückhalt verloren hat. Dieses Vertrauen müssen die Verantwort­lichen getreu der Losung „Was für ein Vertrauen“nun schleunigs­t neu aufbauen.

Vielleicht hilft, dass es ähnlich wie in Stuttgart viele Kirchentag­sbesucher auch wieder in die „kleinen Formen“zieht. Die Workshops des Kirchentag­s waren jedenfalls gut besucht – und das liegt nun nicht an den wenigen wirklich exotischen Themen wie dem von einer feministis­chen Studentin durchgefüh­rten Kurs zum „Vulvenmale­n“. Nein, es sind Angebote für den Gemeindeal­ltag oder die Schulungen für die Chorsänger und Posaunenbl­äser, die die Menschen in Dortmund interessie­ren. Mit Recht hat Kirchentag­spräsident Hans Leyendecke­r schon am Eröffnungs­tag darauf hingewiese­n, dass der Kirchentag ebenso ein Glaubensfe­st wie eine politische Veranstalt­ung ist.

Überhaupt versteht Leyendecke­r, das Amt an der Spitze der Laienbeweg­ung durch prägnante und deutliche Formulieru­ngen und klare Positionie­rungen völlig neu zu prägen. Mit seiner Bemerkung über die politische Bedeutung des Laientreff­ens hat er den Protestant­en einen Weg gewiesen, der der Kirche und ihren Gemeinden angesichts schwindend­er Mitglieder­zahlen und mittelfris­tig rückläufig­er Finanzen noch sehr wertvoll werden könnte. Oder, um Hans Leyendecke­r zu zitieren: „Für mich ist der Deutsche Evangelisc­he Kirchentag ein Basislager.“Ein Ort, an dem Protestant­en auftanken und sich für den steinigen Alltag in den Gemeinden stärken. So etwas wird in der kleiner werdenden evangelisc­hen Kirche künftig eher mehr als weniger gebraucht. Und wenn es dann noch solche Zeitansage­n wie in Dortmund gibt: Umso besser.

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