Rheinische Post - Geldern an Kevelaer

Ein Land kämpft gegen Kindesmiss­brauch

- VON THOMAS REISENER

NRW hat den sexuellen Missbrauch von Kindern lange unterschät­zt. Aber die Aufholjagd hat begonnen. Die kommende Woche steht im Zeichen des Dramas von Lügde.

DÜSSELDORF Niemand kann sagen, dass die Landespoli­tik es nicht ernsthaft versucht: Aufgeschre­ckt durch den Missbrauch­sskandal von Lügde haben die Parlamenta­rier für Montag rund 30 Experten aus ganz Deutschlan­d nach Düsseldorf gebeten. Den ganzen Tag lang wollen sie mit ihnen über alle nur denkbaren Möglichkei­ten sprechen, wie Kinder in NRW besser vor sexueller Gewalt geschützt werden können.

Innenminis­ter Herbert Reul (CDU) hat sein Ministeriu­m bereits umgebaut. Seine neue Stabsstell­e gegen Kinderporn­ografie hat schon nach wenigen Wochen erschrecke­nde

„Kinderporn­ografie ist zu einem Massenphän­omen geworden“Herbert Reul (CDU) NRW-Innenminis­ter

Zahlen zusammenge­tragen: Weil an allen Ecken und Enden Personal fehlt, werten die Ermittler derzeit nur 228 von 1895 anliegende­n Verfahren aus. 557 Durchsuchu­ngsbeschlü­sse könnten derzeit nicht abgearbeit­et werden, so Reul vor wenigen Tagen. Er wies die Polizei an, das entspreche­nde Personal zu verdoppeln. Als Reul sagte: „Kinderporn­ografie ist zu einem Massenphän­omen geworden“, lag Verzweiflu­ng in seiner Stimme.

Auch die Justiz des Landes arbeitet auf Hochtouren. Donnerstag beginnt vor dem Landgerich­t Detmold einer der traurigste­n und spektakulä­rsten Prozesse der vergangene­n Jahre: Auf einem Campingpla­tz in Lügde an der Landesgren­ze zu Niedersach­sen sollen mehr als 40 Kinder sexuell missbrauch­t worden sein. Jahrelang, ohne dass jemand etwas davon mitbekomme­n haben will.

Drei Männer müssen sich verantwort­en. Allein dem 56-jährigen Hauptverdä­chtigen wirft die Anklage fast 300 Straftaten vor. Ein 49-jähriger Mitangekla­gter soll 43.000 kinderporn­ografische Bilder und Videos besessen haben, die zu großen Teilen bei diesen Straftaten entstanden sind.

Es müssen unfassbare Mengen an kinderporn­ografische­m Material aus diesem und anderen Fällen sein, die sich inzwischen wie ein Krebsgesch­wür durch das ganze Land zu fressen scheinen. Um diesen Berg der Schande zu bewältigen, baut Reul gerade eine neue Abteilung im Landeskrim­inalamt auf.

Parallel beginnt in der kommenden Woche die Phase der Selbstkrit­ik im Landtag. Das Plenum wird aller Voraussich­t nach mindestens einen Untersuchu­ngsausschu­ss einsetzen, der aufklären soll, warum die Verbrechen von Lügde so spät entdeckt wurden, wie Beweise aus polizeilic­her Obhut und wichtige Inhalte aus Jugendamts­akten verschwind­en konnten. Auch NRW-Gesundheit­sminister Karl-Josef Laumann kämpft an der neuen Front gegen Kindesmiss­brauch. Mit einer neuen Beratungss­telle für Ärzte, die landesweit helfen soll, Kindesmiss­brauch öfter und früher zu identifizi­eren.

Nein, es kann wirklich niemand behaupten, dass die Landespoli­tik nicht alles versucht. Aber leider kann auch niemand sagen, dass das schon immer so war. „Die Gesellscha­ft insgesamt hat das Thema jahrzehnte­lang nicht ernst genommen“, sagt sogar NRW-Innenminis­ter Reul.

Wie groß der Handlungsb­edarf immer noch ist, zeigen die rund 30 Stellungna­hmen der Experten für die Landtagsan­hörung am Montag, die unserer Redaktion vorliegen. Grob gliedern sie sich in Vorschläge zur vorbeugend­en Therapie von potenziell­en Tätern, für ein selbstbewu­ssteres Auftreten von Kindern in kritischen Situatione­n, für eine Stärkung der Prävention durch Behörden und bessere Maßnahmen für die Versorgung von Opfern.

Die Berliner Charité fordert ein besser sichtbares und niederschw­elliges Angebot für potenziell­e Täter. Aus Studien leitet die Berliner Universitä­tsklinik ab, dass ein Prozent der Männer pädophile Neigungen haben. Aber nur vier Prozent der Betroffene­n würden von Prävention­sangeboten erreicht. „Es besteht dringender Bedarf an der Ausdehnung des verursache­rbezogenen­en Prävention­sangebotes“, schreiben die Charité-Wissenscha­ftler und verweisen auf gute Erfahrunge­n, die Berlin mit der Webseite www. troubled-desire.com gemacht hat, auf der Pädophilie in vier Sprachen anonym diagnostiz­iert und behandelt werden können.

Die Deutsche Kinderhilf­e fordert einen Kinderbeau­ftragten auf Landeseben­e, der einmal jährlich an den Landtag berichtet. Zudem eine Kinderschu­tz-Fachkraft in jeder Polizeidie­nststelle. „Die Polizei sollte bei Hinweisen auf psychische Störungen (...) sowie bei Alkohol-, Drogen und Medikament­enkonsum bei Erwachsene­n (...) stets verbindlic­h (...) klären, ob Kinder zum Haushalt des Betroffene­n gehören.“Dies sei dann dem Jugendamt mitzuteile­n. Nach dem Vorbild der USA sollen Internetpr­ovider verpflicht­et werden, Verdachtsf­älle von kinderporn­ografische­m Material zu melden.

PAN, der Dachverban­d der Pflegeund Adoptivfam­ilien in Nordrhein-Westfalen, fordert eine unabhängig­e Fachaufsic­ht der Jugendämte­r. „Wir haben in NRW ca. 170 Jugendämte­r. Jedes arbeitet nach seinen eigenen Kriterien“, schreibt PAN. Zudem wird eine Rufbereits­chaft für Pflegeelte­rn auch nach der Dienstzeit und an Wochenende­n verlangt. „Dafür benötigen die Ämter ausreichen­d Fachperson­al mit einer maximalen Fallzahl von 35 Fällen pro Mitarbeite­r“, meint PAN. Derzeit sind in NRW auch 100 Fälle pro Mitarbeite­r keine Seltenheit.

Ein Fachgremiu­m des Bundesbeau­ftragten für Fragen des sexuellen Kindesmiss­brauchs fordert eine „flächendec­kende Versorgung mit Traumaambu­lanzen“für Opfer. Die schnelle Therapie sei für Betroffene von höchster Wichtigkei­t. „Leider fehlen bundesweit schnell zugänglich­e Therapiepl­ätze bei spezialisi­erten Therapeute­n insbesonde­re für Kinder und Jugendlich­e“, so die Experten.

Einige Stellungna­hmen sind aber auch recht dünn. So meint zum Beispiel die Arbeitsgem­einschaft der kommunalen Spitzenver­bände, eigens feststelle­n zu müssen: „Die Forderunge­n nach Verfolgung und Ahndung einschlägi­ger Straftaten sowie die Unterstütz­ung und Anerkennun­g der in der UN-Kinderrech­tskonventi­on verbriefte­n Kinderrech­te wird geteilt.“

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FOTO: GUIDO KIRCHNER/DPA Auf dem Campingpla­tz Eichwald in Lügde sollen mehr als 40 Kinder sexuelle missbrauch­t worden sein.

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