Rheinische Post - Geldern an Kevelaer
Ein Land kämpft gegen Kindesmissbrauch
NRW hat den sexuellen Missbrauch von Kindern lange unterschätzt. Aber die Aufholjagd hat begonnen. Die kommende Woche steht im Zeichen des Dramas von Lügde.
DÜSSELDORF Niemand kann sagen, dass die Landespolitik es nicht ernsthaft versucht: Aufgeschreckt durch den Missbrauchsskandal von Lügde haben die Parlamentarier für Montag rund 30 Experten aus ganz Deutschland nach Düsseldorf gebeten. Den ganzen Tag lang wollen sie mit ihnen über alle nur denkbaren Möglichkeiten sprechen, wie Kinder in NRW besser vor sexueller Gewalt geschützt werden können.
Innenminister Herbert Reul (CDU) hat sein Ministerium bereits umgebaut. Seine neue Stabsstelle gegen Kinderpornografie hat schon nach wenigen Wochen erschreckende
„Kinderpornografie ist zu einem Massenphänomen geworden“Herbert Reul (CDU) NRW-Innenminister
Zahlen zusammengetragen: Weil an allen Ecken und Enden Personal fehlt, werten die Ermittler derzeit nur 228 von 1895 anliegenden Verfahren aus. 557 Durchsuchungsbeschlüsse könnten derzeit nicht abgearbeitet werden, so Reul vor wenigen Tagen. Er wies die Polizei an, das entsprechende Personal zu verdoppeln. Als Reul sagte: „Kinderpornografie ist zu einem Massenphänomen geworden“, lag Verzweiflung in seiner Stimme.
Auch die Justiz des Landes arbeitet auf Hochtouren. Donnerstag beginnt vor dem Landgericht Detmold einer der traurigsten und spektakulärsten Prozesse der vergangenen Jahre: Auf einem Campingplatz in Lügde an der Landesgrenze zu Niedersachsen sollen mehr als 40 Kinder sexuell missbraucht worden sein. Jahrelang, ohne dass jemand etwas davon mitbekommen haben will.
Drei Männer müssen sich verantworten. Allein dem 56-jährigen Hauptverdächtigen wirft die Anklage fast 300 Straftaten vor. Ein 49-jähriger Mitangeklagter soll 43.000 kinderpornografische Bilder und Videos besessen haben, die zu großen Teilen bei diesen Straftaten entstanden sind.
Es müssen unfassbare Mengen an kinderpornografischem Material aus diesem und anderen Fällen sein, die sich inzwischen wie ein Krebsgeschwür durch das ganze Land zu fressen scheinen. Um diesen Berg der Schande zu bewältigen, baut Reul gerade eine neue Abteilung im Landeskriminalamt auf.
Parallel beginnt in der kommenden Woche die Phase der Selbstkritik im Landtag. Das Plenum wird aller Voraussicht nach mindestens einen Untersuchungsausschuss einsetzen, der aufklären soll, warum die Verbrechen von Lügde so spät entdeckt wurden, wie Beweise aus polizeilicher Obhut und wichtige Inhalte aus Jugendamtsakten verschwinden konnten. Auch NRW-Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann kämpft an der neuen Front gegen Kindesmissbrauch. Mit einer neuen Beratungsstelle für Ärzte, die landesweit helfen soll, Kindesmissbrauch öfter und früher zu identifizieren.
Nein, es kann wirklich niemand behaupten, dass die Landespolitik nicht alles versucht. Aber leider kann auch niemand sagen, dass das schon immer so war. „Die Gesellschaft insgesamt hat das Thema jahrzehntelang nicht ernst genommen“, sagt sogar NRW-Innenminister Reul.
Wie groß der Handlungsbedarf immer noch ist, zeigen die rund 30 Stellungnahmen der Experten für die Landtagsanhörung am Montag, die unserer Redaktion vorliegen. Grob gliedern sie sich in Vorschläge zur vorbeugenden Therapie von potenziellen Tätern, für ein selbstbewussteres Auftreten von Kindern in kritischen Situationen, für eine Stärkung der Prävention durch Behörden und bessere Maßnahmen für die Versorgung von Opfern.
Die Berliner Charité fordert ein besser sichtbares und niederschwelliges Angebot für potenzielle Täter. Aus Studien leitet die Berliner Universitätsklinik ab, dass ein Prozent der Männer pädophile Neigungen haben. Aber nur vier Prozent der Betroffenen würden von Präventionsangeboten erreicht. „Es besteht dringender Bedarf an der Ausdehnung des verursacherbezogenenen Präventionsangebotes“, schreiben die Charité-Wissenschaftler und verweisen auf gute Erfahrungen, die Berlin mit der Webseite www. troubled-desire.com gemacht hat, auf der Pädophilie in vier Sprachen anonym diagnostiziert und behandelt werden können.
Die Deutsche Kinderhilfe fordert einen Kinderbeauftragten auf Landesebene, der einmal jährlich an den Landtag berichtet. Zudem eine Kinderschutz-Fachkraft in jeder Polizeidienststelle. „Die Polizei sollte bei Hinweisen auf psychische Störungen (...) sowie bei Alkohol-, Drogen und Medikamentenkonsum bei Erwachsenen (...) stets verbindlich (...) klären, ob Kinder zum Haushalt des Betroffenen gehören.“Dies sei dann dem Jugendamt mitzuteilen. Nach dem Vorbild der USA sollen Internetprovider verpflichtet werden, Verdachtsfälle von kinderpornografischem Material zu melden.
PAN, der Dachverband der Pflegeund Adoptivfamilien in Nordrhein-Westfalen, fordert eine unabhängige Fachaufsicht der Jugendämter. „Wir haben in NRW ca. 170 Jugendämter. Jedes arbeitet nach seinen eigenen Kriterien“, schreibt PAN. Zudem wird eine Rufbereitschaft für Pflegeeltern auch nach der Dienstzeit und an Wochenenden verlangt. „Dafür benötigen die Ämter ausreichend Fachpersonal mit einer maximalen Fallzahl von 35 Fällen pro Mitarbeiter“, meint PAN. Derzeit sind in NRW auch 100 Fälle pro Mitarbeiter keine Seltenheit.
Ein Fachgremium des Bundesbeauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs fordert eine „flächendeckende Versorgung mit Traumaambulanzen“für Opfer. Die schnelle Therapie sei für Betroffene von höchster Wichtigkeit. „Leider fehlen bundesweit schnell zugängliche Therapieplätze bei spezialisierten Therapeuten insbesondere für Kinder und Jugendliche“, so die Experten.
Einige Stellungnahmen sind aber auch recht dünn. So meint zum Beispiel die Arbeitsgemeinschaft der kommunalen Spitzenverbände, eigens feststellen zu müssen: „Die Forderungen nach Verfolgung und Ahndung einschlägiger Straftaten sowie die Unterstützung und Anerkennung der in der UN-Kinderrechtskonvention verbrieften Kinderrechte wird geteilt.“