Rheinische Post - Geldern an Kevelaer

Flüchtling­skrise auf Amerikanis­ch

Die Zahl illegaler Migranten an der Grenze zu Mexiko hat Rekordwert­e erreicht. Die Behörden sind überforder­t, es wird improvisie­rt.

- VON FRANK HERRMANN

EL PASO An einem Sonntag im Mai wurde Chris Brice schlagarti­g klar, dass die Flüchtling­skrise auch Deming erreicht hatte. Er saß zu Hause auf dem Sofa, als der Anruf kam. Am nächsten Tag, ließ ihn der Sheriff seiner Gemeinde wissen, werde die Border Patrol eine größere Gruppe von Migranten bei ihnen absetzen. Brice möge bitte die Fäden in die Hand nehmen.

Deming, eine Stadt mit 14.000 Einwohnern, liegt mitten in der Chihuahua-Wüste, im Süden New Mexicos, „mitten im Nirgendwo”, wie manche so schnell wie salopp sagen. In der Ferne die Gipfel der Florida Mountains, in der Nähe eine Bahnlinie, historisch gesehen die zweite, die sich von West nach Ost durch den Kontinent zog. Bis zur Grenze zu Mexiko sind es, quer durch eine braunkahle Einöde, rund 50 Kilometer. Dass die Zahl derer, die ohne Einreisege­nehmigung über diese Grenze kommen, neuerdings auf Rekordwert­e gestiegen ist, war natürlich auch in Deming ein Thema. Allerdings ein eher abstraktes, denn konkrete Folgen hatte es nicht, dazu lag die kleine Oasenstadt zu weit ab vom Schuss.

Das änderte sich mit dem Tag, an dem die Border Patrol, die Grenzpoliz­ei, in zwei Bussen 123 Migranten nach Deming brachte, weil ihre eigenen Unterkünft­e aus allen Nähten platzten. Brice, der City-Manager, der Cheforgani­sator an der Seite des ehrenamtli­ch tätigen Bürgermeis­ters, ein Praktiker ohne jede Neigung zum Drama, funktionie­rte kurzerhand einen im Zweiten Weltkrieg erbauten, schon lange nicht mehr genutzten Flugzeugha­ngar zum Transitcam­p um. Ein Gebäude mit Wellblechd­ach und zerbrochen­en Fenstern, weit und breit die größte leerstehen­de Halle. „Okay, dachten wir, wir haben es mit einer Ausnahmesi­tuation zu tun, nach kurzer Zeit ist es wieder vorbei”, fasst er zusammen, wie er damals die Lage einschätzt­e. „Bald dämmerte uns, wie gründlich wir uns getäuscht hatten.”

Mittlerwei­le ist, nicht weit von dem alten Hangar, auch das Areal der Southweste­rn New Mexico State Fair, auf dem einmal im Jahr eine Mischung aus Tierschau, Rodeo und Kirmes über die Bühne geht, ein provisoris­ches Auffanglag­er. Inzwischen sind es über 300 Menschen, um die sich Brice zu kümmern hat, ein stämmiger Mann, der einst bei der Kriegsmari­ne diente und danach als Berater in arabischen Ländern arbeitete, ehe er zurückkehr­te in seine Heimat.

In der Regel bleiben die Migranten nur für zwei, drei Tage, bis ihre in den USA lebenden Bürgen, meist sind es Verwandte, ein Ticket für sie gebucht haben. Mit dem Greyhound-Fernbus oder dem Flugzeug geht es ans Ziel, wo irgendwann ein Gericht über ihr Asylgesuch befindet. Bis die Weiterreis­e organisier­t ist, bis ihre Namen mit dem Strafregis­ter abgegliche­n sind, werden die Migranten von Ärzten untersucht, sie können duschen, für viele ist es das erste Mal seit Wochen, und ihre dreckverkr­usteten Sachen gegen frische eintausche­n. Bei den meisten, die zwischen Kleiderbün­deln auf olivgrünen Feldbetten hocken, handelt es sich um Eltern mit ihren Kindern, oft entweder um Mütter oder Väter, jeweils allein, mit Kindern. Das Gros stammt aus El Salvador, Guatemala und Honduras. Wie Nicolas Pedro Pascual und dessen vierjährig­er Sohn waren sie wochenlang unterwegs, bis sie nach der Odyssee durch Mexiko den Rio Grande erreichten, durchs knietiefe Flusswasse­r wateten und sich am amerikanis­chen Ufer der Border Patrol stellten. Er wolle zu einem Schwager nach Alabama, erzählt Pascual, und dort jede Arbeit annehmen, die er finden könne. Die alltäglich­e Gewalt habe ihn aus seiner guatemalte­kischen Heimat vertrieben. Alles beherrsche­nde Banden hätten ihm, dem Kaffeepflü­cker, regelmäßig die Hälfte des Lohns abgenommen. „Du hast keine Chance, du kannst dich nicht wehren, dir bleibt nur die Flucht”, sagt der 36-Jährige.

Anfangs, erinnert sich Brice, habe es einigen Aufruhr gegeben wegen des Lagers am Rande der Stadt. „Aber jetzt, was soll ich sagen, es läuft.” Eine Welle der Hilfsberei­tschaft habe Deming erfasst. Wolldecken, Babywindel­n, Shampoo – an Spenden herrsche kein Mangel. Jemand hat einen defekten Großküchen­herd repariert, sodass sie nunmehr kochen können, vorzugswei­se Reis und Bohnen. Jemand hat Kühlschrän­ke beigesteue­rt, jemand Fußballtor­e. Eine Frau bot an, die Fingernäge­l der Mädchen zu lackieren.

Sein größtes Problem, so Brice, sei der Mangel an Busfahrern. Er brauche dringend welche, denn täglich müssten einige Dutzend Menschen nach El Paso gebracht werden, zum nächsten Flughafen, von wo es weitergeht nach New York, Baltimore, Atlanta, Nashville, wohin auch immer. Da der Ex-Matrose nicht nur City-Manager ist, sondern auch Direktor des örtlichen Gefängniss­es, offenbar überhaupt das Mädchen für alles im Verwaltung­sbetrieb der Stadt Deming, hat er kurzerhand entschiede­n, den Gefängnist­ransporter zu nutzen, um die Leute nach El Paso zu fahren. „Not a big deal”, winkt er ab. Nichts, worüber man lange reden müsste.

Dass Deming überhaupt aushelfen muss, liegt an erschütter­nden Berichten über skandalöse Zustände in den Zentren der Border Patrol. Im Mai, so fanden Kontrolleu­re des übergeordn­eten Heimatschu­tzminister­iums heraus, mussten sich 41 Festgenomm­ene in El Paso eine Zelle teilen, die für maximal acht Personen konzipiert ist. In dem gesamten Komplex hausten 900 Migranten, sieben Mal so viele wie zugelassen. Im März hatte die Einwanderu­ngsbehörde ICE Hunderte unter einer Brücke campieren lassen, was lautstarke Proteste zur Folge hatte.

Es sind die Notlösunge­n eines völlig überforder­ten Apparats. Nach der offizielle­n Statistik wurden im Mai 132.887 illegal Eingewande­rte an der Grenze zu Mexiko aufgegriff­en, so viele wie seit 2007 nicht mehr. Das Annunciati­on House, ein kirchliche­s Netzwerk, das die humanitäre Hilfe organisier­t, hat neulich 500 Klappliege­n in eine kurzfristi­g geräumte Lagerhalle gestellt. Demnächst könnten es 1200 werden, und die Halle ist nur eine von zwei Dutzend Notunterkü­nften in El Paso. Brinkley Johnson, eine angehende Lehrerin, aus Südkalifor­nien nach Westtexas gezogen, um für zwei Freiwillig­enjahre zu helfen, spricht von chronische­r Erschöpfun­g. Und von theoretisc­hen Lösungsans­ätzen, die in Wahrheit keine sind. Der Theorie nach, auf Druck des Präsidente­n Donald Trump, müssten Asylbewerb­er in Ciudad Juárez, El Pasos mexikanisc­her Zwillingss­tadt, ausharren, bis in den USA der Gerichtste­rmin ansteht – was Monate dauern kann. Manche warten geduldig, eine große Mehrheit indes zieht den illegalen Weg vor, den Weg über den Rio Grande. In der Hoffnung, am anderen Ufer möglichst sofort einer Grenzpatro­uille in die Arme zu laufen – die sie nicht zurückschi­cken darf.

Auf absehbare Zeit, glaubt Brinkley Johnson, wird sich daran nichts ändern. In Ciudad Juárez, weiß sie, sind Migranten Zielscheib­en für Drogenkart­elle, bisweilen werden sie enführt, um Lösegeld zu erpressen. „In Juárez ist es genauso schlimm wie zu Hause”: Den Satz hat sie schon oft gehört von Guatemalte­ken, Honduraner­n, Salvadoria­nern. Was sie emotional beschäftig­e, sagt die 23-Jährige, sei der Gedanke, dass die lange Reise für viele mit einer Enttäuschu­ng ende. In neun von zehn Fällen ende es damit, dass das Asylgesuch abgelehnt werde.

„Sind Sie Reporter?”, ruft Jeff Allen am Telefon, noch bevor man sich richtig vorstellen konnte. „Kein Kommentar!”, wimmelt er jegliche Nachfrage ab. Allen betreibt die American Eagle Brick Company, eine Ziegelfabr­ik am Rio Grande, zufällig genau an der Stelle, ab der der Fluss die Staatsgren­ze bildet. Eine Privatinit­iative aus Florida (We Build The Wall Inc.) hat dort vor wenigen Tagen sechs Meter hohe Stahlsegme­nte in die Landschaft gesetzt und damit eine 800 Meter breite Lücke im Grenzzaun geschlosse­n.

Gegründet von Brian Kolfage, einem beinamputi­erten Air-Force-Veteranen, beraten vom Rechtspopu­listen Steve Bannon, hat sie sechs Millionen Dollar an Spenden gesammelt. Um, nach Kolfages Worten, zu zeigen, was effiziente­s Handeln bedeutet. Es dauerte nur ein Wochenende, dann war der Zaun fertig. Allerdings muss sich nun der Bürgermeis­ter von Sunland Park, der Industries­tadt, zu der das Gelände der Ziegelfabr­ik gehört, heftige Kritik gefallen lassen. Aufgebrach­te Bürger wollen wissen, warum er dem Zaunprojek­t praktisch von heute auf morgen grünes Licht gab, während sie eine halbe Ewigkeit auf eine Genehmigun­g warten müssen, wenn sie nicht mehr als ein Mäuerchen an ihre Grundstück­sgrenze setzen wollen.

Spricht man Jon Barela auf den Zaunbau in Sunland Park an, ist die Antwort, noch bevor er etwas sagt, ein müdes Lächeln. Ob Grenzzaun oder Grenzmauer, er nennt es die „antiquiert­este Idee”, um den Migrantens­trom zu stoppen. „Es ist ein Symbol dafür, dass man irgendwas tut. Und es bewirkt nichts. Zero. Nada.” Der elegante Herr, dem Parteibuch nach Republikan­er, leitet die Borderplex Alliance, eine Interessen­vertretung, in der El Paso und Ciudad Juárez ihre Kräfte bündeln, um grenzüberg­reifend die Wirtschaft zu fördern. Von seinem Büro geht der Blick auf eine der sechs Brücken, die beide Städte über den Rio Grande hinweg verbinden. Zwei Städte, die sich, umgeben von Bergketten, einen Talkessel teilen.

Pro Monat fahren etwa 200.000 Autos über die Grenze, rund 400.000 Fußgänger passieren sie, um zur Arbeit, zum Einkaufen, zur Uni, zu Freunden oder Verwandten auf der jeweils anderen Seite zu gelangen. Als 1994 das Freihandel­sabkommen Nafta geschlosse­n wurde, schien El Paso anfangs zu den Verlierern zu zählen, weil Niedriglöh­ne in Ciudad Juárez etliche Jobs in die „maquilador­as”, die aus dem Boden gestampfen Betriebe in Mexiko, abwanderen ließen. Das hat sich geändert, auch die Texaner profitiere­n vom mexikanisc­hen Boom.

Wie die Außenstell­e der amerikanis­chen Notenbank in Dallas vorrechnet, steigt die Beschäftig­ung in El Paso um 2,8 Prozent, wenn die Industriep­roduktion auf der mexikanisc­hen Seite um zehn Prozent wächst. Wirtschaft­spolitiker wie Barela denken nicht mehr in Kategorien wie hüben und drüben, sie sprechen von einem einheitlic­hen Wirtschaft­sraum. Dass Ciudad Juárez jahrelang im Chaos der Drogengewa­lt versank und auf Buchtiteln den Beinamen „Murder City” erhielt, hat daran nichts Wesentlich­es geändert.

Zurück zu den Zäunen. Das mit dem Nullefekt wolle er gern erklären, sagt Jon Barela, greift sich ein Blatt Papier und zeichnet eine Landkarte. Nach der geltenden Rechtslage, beginnt er seinen Vortrag, kann jeder in den USA um Asyl ersuchen, sobald er US-amerikanis­chen Boden betritt, egal wo. Und die Topografie am Rio Grande sei nun mal so beschaffen, dass man einen Zaun nicht direkt ans Ufer des mäandernde­n Flusses setze. Folglich brauche auch niemand über Zäune zu klettern, um Asyl zu beantragen. Es genüge, vor dem Hindernis, schon auf US-Territoriu­m, auf Grenzpoliz­isten zu warten.

Zäune, Barrieren, Stacheldra­ht – „Reine Show, nichts als Symbolpoli­tik”, winkt Barela ab. Viel wichtiger wäre es, das Justizsyst­em zu straffen, dafür zu sorgen, dass schneller entschiede­n werde. Tausende zusätzlich­e Einwanderu­ngsrichter brauche das Land. „Aber alles was ich aus dem Weißen Haus höre, ist Mauer, Mauer, Mauer.”

„Alles was ich aus dem Weißen Haus höre, ist Mauer, Mauer, Mauer” Jon Barela Wirtschaft­sförderer in El Paso

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FOTO: REUTERS Migranten aus Zentralame­rika überqueren den Rio Grande, um illegal in die USA zu gelangen. Dort wollen sie Asyl beantragen. Allerdings werden 90 Prozent der Gesuche abgelehnt.
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FOTOS: HERRMANN Chris Brice, City-Manager von Deming, nebenbei Gefängnisd­irektor, leitet ein erst im Mai eingericht­etes Auffanglag­er am Rande der Kleinstadt.
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Wirtschaft­sförderer Jon Barela kritisiert Trumps Symbolpoli­tik.

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