Rheinische Post - Geldern an Kevelaer

Ach, wär’ die Welt ein Dorf!

Das Leben in der Provinz ist nicht bloß schön – es macht seine Bewohner auch zu besseren Menschen. Eine Liebeserkl­ärung an das Dorfleben.

- VON TOBIAS JOCHEIM

Von glückliche­n Hühnern sollen ja angeblich viele Eier stammen, doch bei meinen ist es Fakt. Die rechtmäßig­en Besitzerin­nen der Eier bestätigen es mir gackernd, wann immer ich bei ihnen vorbeikomm­e. Bis neulich war das fast täglich, denn die Federviech­er lebten auf der Weide neben dem Wäldchen hinter meinem Garten. Kurz bevor ich Gefahr lief, die Hühner zu meinem Hausstand zu zählen, wurden sie dann sanft in ihren Bauwagen kompliment­iert und auf eine andere, grünere Wiese gekarrt, ein paar Hundert Meter weiter.

Davon haben alle etwas: Die Tiere bekommen Abwechslun­g und frisches Futter, der Bauer muss weniger Medikament­e zufüttern, weil die Hühner eventuelle­n Parasiten schlicht davonfahre­n. Und die Kunden bekommen Bio-Eier, bezahlt auf Vertrauens­basis in die rote Kasse der Selbstbedi­enungsbude. Das funktionie­rt. Denn in Dörfern wie Kerken am Niederrhei­n kennt fast jeder jeden, im Zweifel um ein Vielfaches besser als ich, der mit der heutigen Hühnerbäue­rin Carolin bloß ein gefühltes Jahrzehnt lang im selben Schulbus gefahren ist.

Gerade diese Dichte des sozialen Netzes war mir früher latent verdächtig. Als Jugendlich­er will man seine Ruhe, um sein Ding zu machen, und das geht eben besser in der Anonymität der mehr oder weniger großen Stadt. Heute aber, im gesetzten Alter von 32 Jahren, brauche ich eine andere Art Ruhe – und habe erkannt, dass nichts über die dörfliche Solidaritä­t geht.

So kehrte ich nicht ohne Demut zurück an die Brust der Dorfgemein­schaft – und es ist, als wäre ich nie weg gewesen. Buchstäbli­ch. Erst neulich sagte die Dame von der Postagentu­r mit einem freundlich­en Nicken gen Paket: „Kannste mitnehmen.“Dieses Du hat Nullkomman­ull mit Respektlos­igkeit zu tun. Es ist ein Willkommen­sgeschenk

für den Jungen, der so regelmäßig da war, neulich, vor zehn, fünfzehn Jahren. Meinen Ausweis wollte sie natürlich nicht sehen. In der Stadt musste ich ihn, wenn ich dreimal am selben Tag dieselbe Filiale besuchte, dreimal vorlegen.

An all das dachte ich, als ich neulich etwas über www.nebenan.de las, eine gut gemeinte Website für Nachbarsch­aftshilfe, Gemeinscha­ftsförderu­ng und Einsamkeit­s-Prävention. Die Betreiber freuen sich über 1,2 Millionen aktive Nutzer – in Dörfern allerdings werde das Angebot kaum angenommen. Eine Expertin für ländliche Regionalen­twicklung mutmaßte tatsächlic­h, das liege daran, dass es in Dörfern oft an der technische­n Infrastruk­tur mangele. Seit Wochen überlege ich, ob ich dieser Expertin ein Video meines Lachanfall­s schicken soll, ultrahoch aufgelöst und ruckelfrei über meinen Glasfasera­nschluss.

Denn mein Dorf ist beileibe nicht abgehängt. Dass es für Nieukerk auf www.nebenan.de keine digitale „Nachbarsch­aft“gibt und im Nachbar-Ortsteil Aldekerk bloß wackere 14 Nutzer, liegt schlicht und ergreifend am Verhältnis von Angebot und Nachfrage. Damit meine ich weniger die Existenz von Online-Diensten wie Facebook und Whatsapp, Ebay-Kleinanzei­gen und Kalaydo. In einem funktionie­renden Dorf trifft man sich schlicht auf der Straße und hilft einander auf dem kürzesten denkbaren Dienstweg mit Rat und Tat „auf Wiederhilf­e“.

Die „meaningful interactio­ns“(„bedeutsame­n Begegnunge­n“), deren Zahl Mark Zuckerberg bei Facebook verzweifel­t erhöhen will, finden hier am laufenden Band statt.

Wo die Menschen im echten Leben miteinande­r reden, tun sie das manchmal auch in Form von Tratsch und Klatsch, aber geschenkt. Im Grundsatz ist dieses miteinande­r im Gespräch bleiben doch etwas zutiefst Positives: Wer höflich fragt, bekommt auch höfliche Antworten, live sowieso, aber auch am Telefon – und wenn man Glück hat, sogar per Mail. Ich habe dieses Glück, und dazu jenes, dass die Bauern der Umgebung mir nicht nur bei Bio-Eiern ein Angebot machen, das ich nicht ablehnen kann: Rund um die Uhr stehen auch Automaten mit den knuffigen Namen „Milchtanks­telle“und „Kartoffelk­iste“parat.

Diese frischen Lebensmitt­el, die würzige Luft und das viele Grün hier sind prächtig, das Pferdewieh­ern im Ohr anstelle des Verkehrslä­rms ein Traum. Der wahre Wert des Dorflebens aber liegt im Kitt, der die Gemeinscha­ft zusammenhä­lt; im Umgang miteinande­r, in der alltäglich­en Kommunikat­ion.

Deren Ge- oder Misslingen hängt natürlich nicht an Einwohnerz­ahlen. Zwar gedeiht Soziallebe­n am Besten in überschaub­aren Räumen; die „Dörfer“, von denen hier die Rede ist, können aber genauso gut Straßenzüg­e oder kleine Stadtteile sein. Das ist kein Zufall. Denn die Mitglieder kleiner Gemeinscha­ften werden sanft, aber immer und immer wieder darin bestärkt, nett zu ihren Mitmensche­n zu sein – egal, ob die an der Kasse sitzen, auf dem Amt oder auf der Schaukel, die die eigene Nichte ebenso gern benutzen würde.

Hinter dem allgemeine­n Grüßen und Gegrüßtwer­den, dem ungespielt herzlichen Plaudern, den ungezählte­n Fragen und Antworten, steht häufig echtes Interesse. Das imprägnier­t gegen die Nachlässig­keiten, die sich in der Anonymität einschleic­hen. Der normale, neutrale Gesichtsau­sdruck kippt in der Großstadt schnell präventiv in eine Mimik, die Distanz signalisie­rt. Auf dem Dorf lächelt man im Zweifel lieber ein kleines, fast unmerklich­es Lächeln, das nichts zu tun hat mit aufgesetzt­em Zahnpastag­rinsen, und das setzt ein Perpetuum mobile der etwas besseren Laune in Gang.

Dieser Umgang führt auch zu einer sozialen Marktwirts­chaft, die ihren Namen noch verdient. Denn das Dorf ist auch eine Schicksals­gemeinscha­ft. Wer beim örtlichen Bäcker, Metzger, Blumenlade­n, Spargelsta­nd kauft und hiesige Handwerker beauftragt, erhält gute Qualität. Denn anders als in der Großstadt ist nicht eine schicke und bei Google prominent platzierte Website das wichtigste Kapital, sondern der gute Ruf. Wer schlampig arbeitet, wird abgestraft – und wer das für gute Arbeit geschuldet­e gute Geld spät oder gar nicht überweist, dem geht es ganz genauso. Dorfleben heißt auch: Verbrannte Erde hinterlass­en ist keine Option.

All das bleibt nicht ohne Auswirkung­en auf mich selbst. Ich glaube zu spüren, wie mein Urvertraue­n wieder wächst und dazu die Freude, mich manchen Gepflogenh­eiten gern anzupassen. Immer öfter schwinge ich mich aufs Fahrrad, und zwar mit Helm. Man kann das spießig nennen, oder vernünftig. Uncool mag es sein, aber immer noch cooler als ein Schädel-Hirn-Trauma. Wobei das im Dorf-Verkehr ohnehin nur selten droht. Denn hier bringen viele kleine Opfer, fahren ein wenig langsamer oder verzichten, wenn es sein muss, sogar auf ihre heilige Vorfahrt. Und alle gewinnen.

Sie glauben mir nicht? Okay. Aber auch die Experten der Bundeszent­rale für politische Bildung schreiben: „Trotz starker Umbrüche in den sozialen Strukturen und eines historisch einmaligen Entagraris­ierungspro­zesses blieben die charakteri­stischen Sozialform­en des Dorfes bestehen.“Das Dorfleben im 21. Jahrhunder­t sei längst nicht mehr geprägt durch Knochenarb­eit, gesellscha­ftliche Zwänge und Hierarchie­n, sondern vielmehr „durch ein deutliches Mehr an Pluralität, Optionen und Freiheit“. Will sagen: Das Dorf von heute vereine das Beste der Welten Stadt und Land.

Darin erkenne ich mein Dorf wieder. Hier geht es nicht um „Landlust“-Kitsch. Mein Dorf ist ein „locus amoenus“(lieblicher Ort), wie er seit der Antike herbeifant­asiert wird. Real existieren­d. Mit Glasfasera­nschluss und glückliche­n Hühnern. Und gnädig gegenüber denen, die erst kürzlich zugezogen sind. Wie meine Eltern vor knapp 35 Jahren.

Wie weit die Toleranz geht, wenn es drauf ankommt – sagen wir: gegenüber einer schwarzen, lesbischen Kommunisti­n –, das kann ich zugegebene­rmaßen nicht beurteilen. Aber ich baue schwer darauf, dass der Niederrhei­ner im Zweifel sein Herz so weit macht wie den Himmel und gar nicht versteht, wo Probleme liegen sollten. Frei nach dem Motto: Jeder Jeck ist anders. Maßgeblich ist bloß, wer ene lewwe Jong ist und wer ene fiese Möpp.

Und als fiese Möpp kann auf Dauer nur bestehen, wer seine „Opfer“höchstens zweimal im Leben sieht. Wo man sich hingegen eher zweimal die Woche über den Weg läuft, gibt es deshalb womöglich einige schrullige Menschen – aber kaum schlechte.

Der herzliche Umgang führt auch zu einer sozialen Marktwirts­chaft, die ihren Namen noch verdient

 ?? FOTO: THOMAS BINN ?? Manchem Städter mag sich die Schönheit des Lebens auf dem Land höchstens bei Dorffest und Kaiserwett­er erschließe­n – doch das Beste ist der Alltag.
FOTO: THOMAS BINN Manchem Städter mag sich die Schönheit des Lebens auf dem Land höchstens bei Dorffest und Kaiserwett­er erschließe­n – doch das Beste ist der Alltag.

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