Rheinische Post - Geldern an Kevelaer
Ach, wär’ die Welt ein Dorf!
Das Leben in der Provinz ist nicht bloß schön – es macht seine Bewohner auch zu besseren Menschen. Eine Liebeserklärung an das Dorfleben.
Von glücklichen Hühnern sollen ja angeblich viele Eier stammen, doch bei meinen ist es Fakt. Die rechtmäßigen Besitzerinnen der Eier bestätigen es mir gackernd, wann immer ich bei ihnen vorbeikomme. Bis neulich war das fast täglich, denn die Federviecher lebten auf der Weide neben dem Wäldchen hinter meinem Garten. Kurz bevor ich Gefahr lief, die Hühner zu meinem Hausstand zu zählen, wurden sie dann sanft in ihren Bauwagen komplimentiert und auf eine andere, grünere Wiese gekarrt, ein paar Hundert Meter weiter.
Davon haben alle etwas: Die Tiere bekommen Abwechslung und frisches Futter, der Bauer muss weniger Medikamente zufüttern, weil die Hühner eventuellen Parasiten schlicht davonfahren. Und die Kunden bekommen Bio-Eier, bezahlt auf Vertrauensbasis in die rote Kasse der Selbstbedienungsbude. Das funktioniert. Denn in Dörfern wie Kerken am Niederrhein kennt fast jeder jeden, im Zweifel um ein Vielfaches besser als ich, der mit der heutigen Hühnerbäuerin Carolin bloß ein gefühltes Jahrzehnt lang im selben Schulbus gefahren ist.
Gerade diese Dichte des sozialen Netzes war mir früher latent verdächtig. Als Jugendlicher will man seine Ruhe, um sein Ding zu machen, und das geht eben besser in der Anonymität der mehr oder weniger großen Stadt. Heute aber, im gesetzten Alter von 32 Jahren, brauche ich eine andere Art Ruhe – und habe erkannt, dass nichts über die dörfliche Solidarität geht.
So kehrte ich nicht ohne Demut zurück an die Brust der Dorfgemeinschaft – und es ist, als wäre ich nie weg gewesen. Buchstäblich. Erst neulich sagte die Dame von der Postagentur mit einem freundlichen Nicken gen Paket: „Kannste mitnehmen.“Dieses Du hat Nullkommanull mit Respektlosigkeit zu tun. Es ist ein Willkommensgeschenk
für den Jungen, der so regelmäßig da war, neulich, vor zehn, fünfzehn Jahren. Meinen Ausweis wollte sie natürlich nicht sehen. In der Stadt musste ich ihn, wenn ich dreimal am selben Tag dieselbe Filiale besuchte, dreimal vorlegen.
An all das dachte ich, als ich neulich etwas über www.nebenan.de las, eine gut gemeinte Website für Nachbarschaftshilfe, Gemeinschaftsförderung und Einsamkeits-Prävention. Die Betreiber freuen sich über 1,2 Millionen aktive Nutzer – in Dörfern allerdings werde das Angebot kaum angenommen. Eine Expertin für ländliche Regionalentwicklung mutmaßte tatsächlich, das liege daran, dass es in Dörfern oft an der technischen Infrastruktur mangele. Seit Wochen überlege ich, ob ich dieser Expertin ein Video meines Lachanfalls schicken soll, ultrahoch aufgelöst und ruckelfrei über meinen Glasfaseranschluss.
Denn mein Dorf ist beileibe nicht abgehängt. Dass es für Nieukerk auf www.nebenan.de keine digitale „Nachbarschaft“gibt und im Nachbar-Ortsteil Aldekerk bloß wackere 14 Nutzer, liegt schlicht und ergreifend am Verhältnis von Angebot und Nachfrage. Damit meine ich weniger die Existenz von Online-Diensten wie Facebook und Whatsapp, Ebay-Kleinanzeigen und Kalaydo. In einem funktionierenden Dorf trifft man sich schlicht auf der Straße und hilft einander auf dem kürzesten denkbaren Dienstweg mit Rat und Tat „auf Wiederhilfe“.
Die „meaningful interactions“(„bedeutsamen Begegnungen“), deren Zahl Mark Zuckerberg bei Facebook verzweifelt erhöhen will, finden hier am laufenden Band statt.
Wo die Menschen im echten Leben miteinander reden, tun sie das manchmal auch in Form von Tratsch und Klatsch, aber geschenkt. Im Grundsatz ist dieses miteinander im Gespräch bleiben doch etwas zutiefst Positives: Wer höflich fragt, bekommt auch höfliche Antworten, live sowieso, aber auch am Telefon – und wenn man Glück hat, sogar per Mail. Ich habe dieses Glück, und dazu jenes, dass die Bauern der Umgebung mir nicht nur bei Bio-Eiern ein Angebot machen, das ich nicht ablehnen kann: Rund um die Uhr stehen auch Automaten mit den knuffigen Namen „Milchtankstelle“und „Kartoffelkiste“parat.
Diese frischen Lebensmittel, die würzige Luft und das viele Grün hier sind prächtig, das Pferdewiehern im Ohr anstelle des Verkehrslärms ein Traum. Der wahre Wert des Dorflebens aber liegt im Kitt, der die Gemeinschaft zusammenhält; im Umgang miteinander, in der alltäglichen Kommunikation.
Deren Ge- oder Misslingen hängt natürlich nicht an Einwohnerzahlen. Zwar gedeiht Sozialleben am Besten in überschaubaren Räumen; die „Dörfer“, von denen hier die Rede ist, können aber genauso gut Straßenzüge oder kleine Stadtteile sein. Das ist kein Zufall. Denn die Mitglieder kleiner Gemeinschaften werden sanft, aber immer und immer wieder darin bestärkt, nett zu ihren Mitmenschen zu sein – egal, ob die an der Kasse sitzen, auf dem Amt oder auf der Schaukel, die die eigene Nichte ebenso gern benutzen würde.
Hinter dem allgemeinen Grüßen und Gegrüßtwerden, dem ungespielt herzlichen Plaudern, den ungezählten Fragen und Antworten, steht häufig echtes Interesse. Das imprägniert gegen die Nachlässigkeiten, die sich in der Anonymität einschleichen. Der normale, neutrale Gesichtsausdruck kippt in der Großstadt schnell präventiv in eine Mimik, die Distanz signalisiert. Auf dem Dorf lächelt man im Zweifel lieber ein kleines, fast unmerkliches Lächeln, das nichts zu tun hat mit aufgesetztem Zahnpastagrinsen, und das setzt ein Perpetuum mobile der etwas besseren Laune in Gang.
Dieser Umgang führt auch zu einer sozialen Marktwirtschaft, die ihren Namen noch verdient. Denn das Dorf ist auch eine Schicksalsgemeinschaft. Wer beim örtlichen Bäcker, Metzger, Blumenladen, Spargelstand kauft und hiesige Handwerker beauftragt, erhält gute Qualität. Denn anders als in der Großstadt ist nicht eine schicke und bei Google prominent platzierte Website das wichtigste Kapital, sondern der gute Ruf. Wer schlampig arbeitet, wird abgestraft – und wer das für gute Arbeit geschuldete gute Geld spät oder gar nicht überweist, dem geht es ganz genauso. Dorfleben heißt auch: Verbrannte Erde hinterlassen ist keine Option.
All das bleibt nicht ohne Auswirkungen auf mich selbst. Ich glaube zu spüren, wie mein Urvertrauen wieder wächst und dazu die Freude, mich manchen Gepflogenheiten gern anzupassen. Immer öfter schwinge ich mich aufs Fahrrad, und zwar mit Helm. Man kann das spießig nennen, oder vernünftig. Uncool mag es sein, aber immer noch cooler als ein Schädel-Hirn-Trauma. Wobei das im Dorf-Verkehr ohnehin nur selten droht. Denn hier bringen viele kleine Opfer, fahren ein wenig langsamer oder verzichten, wenn es sein muss, sogar auf ihre heilige Vorfahrt. Und alle gewinnen.
Sie glauben mir nicht? Okay. Aber auch die Experten der Bundeszentrale für politische Bildung schreiben: „Trotz starker Umbrüche in den sozialen Strukturen und eines historisch einmaligen Entagrarisierungsprozesses blieben die charakteristischen Sozialformen des Dorfes bestehen.“Das Dorfleben im 21. Jahrhundert sei längst nicht mehr geprägt durch Knochenarbeit, gesellschaftliche Zwänge und Hierarchien, sondern vielmehr „durch ein deutliches Mehr an Pluralität, Optionen und Freiheit“. Will sagen: Das Dorf von heute vereine das Beste der Welten Stadt und Land.
Darin erkenne ich mein Dorf wieder. Hier geht es nicht um „Landlust“-Kitsch. Mein Dorf ist ein „locus amoenus“(lieblicher Ort), wie er seit der Antike herbeifantasiert wird. Real existierend. Mit Glasfaseranschluss und glücklichen Hühnern. Und gnädig gegenüber denen, die erst kürzlich zugezogen sind. Wie meine Eltern vor knapp 35 Jahren.
Wie weit die Toleranz geht, wenn es drauf ankommt – sagen wir: gegenüber einer schwarzen, lesbischen Kommunistin –, das kann ich zugegebenermaßen nicht beurteilen. Aber ich baue schwer darauf, dass der Niederrheiner im Zweifel sein Herz so weit macht wie den Himmel und gar nicht versteht, wo Probleme liegen sollten. Frei nach dem Motto: Jeder Jeck ist anders. Maßgeblich ist bloß, wer ene lewwe Jong ist und wer ene fiese Möpp.
Und als fiese Möpp kann auf Dauer nur bestehen, wer seine „Opfer“höchstens zweimal im Leben sieht. Wo man sich hingegen eher zweimal die Woche über den Weg läuft, gibt es deshalb womöglich einige schrullige Menschen – aber kaum schlechte.
Der herzliche Umgang führt auch zu einer sozialen Marktwirtschaft, die ihren Namen noch verdient