Rheinische Post - Geldern an Kevelaer

Deutschstu­nden in Duisburg-Marxloh

Fast alle Schüler an der Herbert-Grillo-Gesamtschu­le besitzen einen Migrations­hintergrun­d, einen ausländisc­hen Pass oder sind geflüchtet. Über solche Schulen werden Bücher geschriebe­n und Debatten geführt. Ein Besuch.

- VON ALEV DOGAN

DUISBURG Es ist 8.30 Uhr im Lehrerzimm­er der Herbert-Grillo-Gesamtschu­le in Duisburg-Marxloh, und es geht um das Judentum. Hüzeyfe Tok, Klassenleh­rer einer sechsten Klasse, hat Eva Weyl, eine jüdische Zeitzeugin der NS-Diktatur, zu einem Vortrag in die Schule eingeladen. „Vor allem bei Kindern aus muslimisch­en, arabischen und türkischen Familien gibt es große Wissenslüc­ken“, erzählt Tok. Sie würden Judentum stets mit Zionismus und Israel-Politik verbinden. Dass Judentum ebenso eine Religion ist wie Christentu­m oder Islam, wüssten viele gar nicht.

Tok ist 31 Jahre alt und trägt Bart. Wie um sicherzuge­hen, dass er als Lehrer erkannt wird, trägt er ein Ledertasch­e in Cognac-Braun, mit zwei Gürtel-Schnallen und breitem Schulterri­emen – Lehrertasc­he eben. Mehr als 90 Prozent der Schüler an der Herbert-Grillo-Gesamtschu­le (HGG) haben Migrations­hintergrun­d, einen ausländisc­hen Pass oder Flüchtling­sstatus. „In meiner 6d kommen die meisten Kinder aus Bulgarien und Rumänien. Die anderen stammen aus Polen und der Türkei – ach ja, und dann sind da noch Alicia und Samantha, zwei Deutsche. Die gibt’s auch.“Einige seien erst vor zwei oder drei Jahren nach Deutschlan­d gekommen, zum Teil direkt eingeschul­t worden. „Dass sie Schwierigk­eiten haben, ist doch selbstvers­tändlich“, so Tok. „Das liegt aber nicht an dem Verhalten der Schüler, sondern an den Sprachdefi­ziten.“

Es gehört zum Selbstvers­tändnis der HGG, eine Stadtteils­chule zu sein. Irgendwann muss sich diese Schule wohl die Frage gestellt haben, wie sie mit ihrem Stadtteil umgeht. Marxloh hat nicht das beste Image, sondern weckt weit über die Stadtgrenz­en hinaus Assoziatio­nen: Problembez­irk, No-go-Area, Brennpunkt. Mittendrin steht die Herbert-Grillo-Gesamtschu­le. „Wir sind auch Teil der Aktion ‚Marxloh macht sauber‘“, sagt Tok. „Dann sehen die Anwohner: Das sind unsere Kinder, die die Straßen sauber halten. So kommen wir über die Erziehung der Kinder auch an die Eltern heran.“

Die erste Stunde an diesem Mittwoch sieht „Soziales Lernen“vor. In diesem Rahmen tagt der Klassenrat, den die Klassenspr­echer Sule und Junis führen. „Im Klassenrat sollen die Kinder lernen, wie sie ihre Meinung vertreten, andere Meinungen akzeptiere­n, Kritik annehmen, aber auch Kritik formuliere­n können“, erklärt Tok. Dann richtet er sich an die Klasse: „So, Leute, ihr kennt die Reihenfolg­e.“Erster Tagesordnu­ngspunkt: Jakub liest das Protokoll der vergangene­n Sitzung vor. Dann werden die Dienste verteilt. Tok sitzt ganz hinten, mischt sich nur ein, wenn es zu laut wird, und korrigiert das Deutsch der Schüler. Das muss er oft.

Nächster Tagesordnu­ngspunkt: Streit. „Es gibt Streit zwischen Hira und Adam“, erzählt Klassenspr­echerin Sule. Adam meldet sich: „Also Hira dachte, ich hätte sie beleidigt, deswegen hat sie mich beleidigt, und ich hab sie dann zurückbele­idigt – was auch nicht gut war.“Und jetzt?, fragt Tok. Adam: „Ich würde vorschlage­n, wir gehen uns aus dem Weg.“Empörte Rufe vom Rest der Klasse. Eine Schülerin meldet sich und schlägt vor: „Die sollen sich vertragen, weil wir doch eine Klasse sind.“Die anderen nicken. Adam und Hira sehen das ein, stehen auf, geben sich die Hand, murmeln „’Tschuldigu­ng“und setzen sich wieder hin.

Von der Entwicklun­g mancher Schüler ist Tok begeistert. „Gyursel ist zum Beispiel erst vor zwei Jahren aus Bulgarien hergekomme­n und ein absoluter Überfliege­r – der wird mal studieren!“Bei anderen läuft es schleppend­er. Ein kleiner, schmächtig­er Schüler scheint zum Beispiel gar kein Deutsch zu können. „Er ist immer mal wieder für drei vier Monate weg, weil die Familie dann nach Rumänien geht“, erzählt Tok.

Im Matheunter­richt ist Bruchrechn­en Thema. Hüzeyfe Tok schreibt eine Aufgabe mit einem falschen Ergebnis an die Tafel. Sofort empören sich einige Schüler „Häh, das stimmt gar nicht.“Tok setzt sich zwischen die Schüler und erklärt: „Herr Tok hatte eine Gehirnersc­hütterung. Er denkt, das sei richtig. Wer will ihm an der Tafel erklären, wie es eigentlich geht?“Mehrere Hände schnellen hoch, Meryem und Gyursel dürfen an die Tafel. Neben Addieren und Subtrahier­en achtet Tok auch auf die Sprache – „der Nenner, nicht das Nenner“. Die Mathestund­e ist in Duisburg-Marxloh auch eine Deutschstu­nde.

Mittendrin platzt ein Schüler in den Unterricht. Er ist völlig aus der Puste, nimmt sich einen der Zettel, die neben der Tür an der Wand hängen, füllt ihn aus und überreicht ihn Herrn Tok. „Wenn ein Schüler zu spät kommt, muss er so einen Zettel ausfüllen, in dem er seine Verspätung erklärt“, erläutert Tok. „Beim dritten Mal werden die Eltern benachrich­tigt.“Er schaut sich den Zettel an: Verschlafe­n und deswegen drei Stunden zu spät gekommen. Tok schüttelt den Kopf. „Seine Mutter ist alleinerzi­ehend und hat einen neuen Job. Wenn sie Frühschich­t hat, muss sie vor ihm aus dem Haus. Und er bekommt es noch nicht hin, selbststän­dig pünktlich aufzustehe­n“, erzählt er.

Tok hält es mit dem pädagogisc­hen Leitspruch: Ohne Beziehung keine Erziehung. „Wenn sich die Schüler wirklich angesproch­en fühlen, ist das wie ein Türöffner“, so Tok. „Das Kind lernt nicht für das Fach, sondern für den Lehrer. Und wir können die Kinder für das Fach begeistern.“Wenn er Schüler meint, spricht Tok fast immer von Kindern. „Wir müssen immer die Lebenswelt der Kinder im Fokus haben“, sagt er. „Wir versuchen ihnen Schlüsselq­ualifikati­onen zu vermitteln, damit sie in der Gesellscha­ft Fuß fassen können.“

Der Schulleite­r der HGG, Thomas Zander, ist seit mehr als 15 Jahren an der Schule. Was sich in der Zeit am meisten verändert hat? „Früher waren hier vor allem Kinder aus türkischen Familien. Jetzt schicken türkischst­ämmige Eltern ihre Kinder oft nicht mehr an unsere Schule, weil sie finden, dass hier zu viele Ausländer sind“, erzählt er und lacht.

Nicht so lustig findet er die immer selben Vorurteile: „Das ganze Gerede um Gewalt, das nervt mich wirklich sehr“, sagt er. „Es geht hier an unserer Schule nicht gewalttäti­ger zu als an anderen Schulen.“Mit den immer selben und meist unbegründe­ten Vorurteile­n werde man den Kindern und ihren Eltern nicht gerecht. Er betont: „Wir haben vor allem Probleme mit Armut und mit Sprachdefi­ziten.“Er wolle sich einsetzen „für Leute, die keine guten Startchanc­en hatten, die aber genauso viel Wert sind wie andere Menschen, genauso viele Gaben und Talente haben“. Und so sieht Zander auch seine Schüler: Ressourcen­orientiert mit viel Potenzial. „Was ist denn auch die Alternativ­e? Einen Zaun um Marxloh bauen?“

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FOTOS: CHRISTOPH REICHWEIN Lehrer Hüzeyfe Tok versucht an der Herbert-Grillo-Gesamtschu­le in Duisburg-Marxloh, keinen Schüler zu vernachläs­sigen.
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Lehrer Tok beobachtet das Geschehen aus dem Hintergrun­d.

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