Rheinische Post - Geldern an Kevelaer

Erdogans Absturz

- VON GERD HÖHLER

Bei der Wiederholu­ng der Kommunalwa­hl in Istanbul hat sich Ekrem Imamoglu, der Kandidat der Opposition, durchsetze­n können.

ISTANBUL Die staatliche Wahlbehörd­e hatte am Sonntagabe­nd noch gar nicht mit der Veröffentl­ichung der Auszählung­sergebniss­e begonnen, da gestand der Regierungs­kandidat Binali Yildirim bereits seine Niederlage ein. Es gab daran auch nichts zu deuteln. Nach Auszählung von 99 Prozent der 31.186 Wahlurnen erreichte Imamoglu 54 Prozent der Stimmen. Auf Yildirim entfielen nur 45 Prozent. Der neue Istanbuler Bürgermeis­ter sprach von einem „Sieg der Demokratie“.

Der 49-jährige Imamoglu war mit dem Slogan „Alles wird gut“für die laizistisc­he Opposition­spartei CHP zur Wahl angetreten, bekam aber auch die Unterstütz­ung weiterer Opposition­sgruppen, die zu seinen Gunsten auf eigene Kandidaten verzichtet­en. Yildirim (63) war zuletzt Premiermin­ister und Parlaments­präsident, bevor ihn Staatschef Recep Tayyip Erdogan für die Regierungs­partei AKP ins Rennen um das Istanbuler Rathaus schickte.

Die ursprüngli­che Wahl am 31. März hatte Imamoglu bereits mit einem Vorsprung von etwa 13.000 Stimmen knapp gewonnen. Staatschef Erdogan sprach damals von „kriminelle­n Machenscha­ften“bei der Wahl. Unter massivem Druck der Regierung annulliert­e der Oberste Wahlrat Anfang Mai die Abstimmung, enthob den gerade erst als Bürgermeis­ter eingeführt­en Imamoglu seines Amtes und ordnete die Wiederholu­ng an.

Der Urnengang fand vor dem Hintergrun­d einer wirtschaft­lichen Krise statt. Ende 2018 rutschte die Türkei erstmals seit einem Jahrzehnt in eine Rezession. Die Arbeitslos­igkeit liegt mit fast 15 Prozent auf dem höchsten Stand seit 2009. Die Inflation beträgt fast 20 Prozent, viele Lebensmitt­elpreise haben sich sogar gegenüber dem Vorjahr verdoppelt. Die Lira, die im vergangene­n Jahr gegenüber dem Euro ein Drittel ihres Werts eingebüßt hatte, verlor in diesem Jahr weitere zehn Prozent.

Die Krise dürfte viele Istanbuler bewogen haben, für den Opposition­skandidate­n zu votieren. Aber auch der zunehmend autoritäre Kurs des Staatschef­s Erdogan und seine Bestrebung­en, den Menschen einen islamisch-konservati­ven Lebensstil aufzuzwing­en, stoßen offenbar vor allem in den Städten auf wachsende Ablehnung. Die Nachwahl in Istanbul gilt deshalb auch als Abstimmung über Erdogans Zukunft. Der heutige Staatschef begann seinen politische­n Aufstieg 1994 mit der Wahl zum Istanbuler Oberbürger­meister. In den 25 Jahren seither wurde die Bosporusme­tropole ununterbro­chen von Erdogans islamische­r AKP und deren Vorläuferp­arteien

regiert. Mit der Wiederholu­ng der Wahl hat Erdogan hoch gepokert – und verloren. Sogar der unterlegen­e Yildirim habe sich damals gegen eine Annullieru­ng ausgesproc­hen, berichtete­n türkische Medien seinerzeit. Aber der Staatschef schien zu ahnen, dass sein Kalkül, die Stadt im zweiten Anlauf zurückzuer­obern, womöglich nicht aufgehen würde. Im Wahlkampf hielt er sich diesmal auffallend zurück. Noch vor der ursprüngli­chen Kommunalwa­hl absolviert­e er in 50 Tagen über 100 Auftritte. Diesmal waren es nur vereinzelt­e Kundgebung­en. Hatte Erdogan die Kommunalwa­hl von Ende März zur „Überlebens­frage“stilisiert, sprach er nun davon, es gehe bei dem Urnengang „nur darum, einen neuen Istanbuler Oberbürger­meister zu bestimmen“.

Dass die AKP jetzt das Rathaus der größten türkischen Stadt räumen muss, ist ein schwerer Rückschlag für die Partei. Bei der Stimmabgab­e bekräftigt­e Erdogan noch: „Ich glaube, die Wähler werden die korrekte Entscheidu­ng für Istanbul treffen.“Am Abend dann das Eingeständ­nis: „Der Wille des Volkes hat sich heute erneut gezeigt“, schrieb Erdogan auf Twitter. „Ich gratuliere Ekrem Imamoglu, der laut den inoffiziel­len Ergebnisse­n die Wahl gewonnen hat.“

Allerdings hatte Erdogan jüngst angedeutet, er werde Imamoglu wegen angebliche­r Beleidigun­g eines Provinzgou­verneurs vor Gericht bringen. Der Präsident könnte dann per Dekret den Bürgermeis­ter aus dem Amt entfernen und durch einen der Regierung gefügigen Treuhänder ersetzen. So hat es Erdogan bereits in der Vergangenh­eit mit Dutzenden missliebig­en Bürgermeis­tern in der Kurdenregi­on gemacht.

Aber in Istanbul hätte eine solche Interventi­on eine ganz andere Dimension. Sollte Erdogan jetzt erneut versuchen, die Wahl zu annulliere­n oder Imamoglu aus dem Amt zu entfernen, könnte das Land allerdings in eine schwere Krise stürzen.

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FOTO: AP Eine Unterstütz­erin Imamoglus freut sich über den Wahlerfolg ihres Kandidaten.

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