Rheinische Post - Geldern an Kevelaer
Die Zauberwesen des Joan Miró
Im Wuppertaler Skulpturenpark von Tony Cragg stehlen kostbare Plastiken der Klassischen Moderne der Natur die Schau.
WUPPERTAL Greifst du nach einem Stein, ist es ein Stein. Greift Joan Miró nach einem Stein, ist es ein Miró. Weil er ihn auserwählt, verwendet und verwandelt.
Der bedeutende spanische Künstler (1893-1983) gilt als Star der Klassischen Moderne und becirct die Kunstwelt mit seinen farbfreudigen, tausendfach aufgelegten Grafiken und Bildern. Mirós Sicht auf die Welt ist einen Hauch kindlich, vielleicht naiv und durch die Konstruktion des Bildgewebes einer surrealen Ebene zuzuordnen.
Miró ist auch der Vertreter einer aufregenden Epoche, des großen Umbruchs in der Kunst. Er war Surrealist, Fauvist auch, ein Vagabund im Stil seiner Zeit, die fast ein Jahrhundert umspannt. Sein bildhauerisches Werk steht gleichberechtigt neben dem bildnerischen. Im Skulpturenpark von Tony Cragg stiehlt ein Dutzend großformatiger Plastiken derzeit den Spätsommer-Capricen der Natur die Schau. Aus Stein und Bronze geformt, präsentiert sich eine Truppe außerirdischer Wesen, die fest im Boden verankert ist.
Der Enkel von Meister Miró ist mit den Skulpturen aus Valencia angereist, Joan Punyet heißt er und kann sich gut an die Zeit erinnern, als er 15 war und in Großvaters Atelier spielte. Im Waschraum gab es einen Seifenspender, dessen Form den Bildhauer zu einer Skulptur inspirierte. „Femme“(Frau) ist eine zwei Meter hohe Bronze mit dreieckigem Unterleib. Ihre Ärmchen sind Stummel, die abstehen wie bei einer Strickliesel. Der Kopf ist überdimensioniert, ein Rechteck auf allzu dünnem Halterohr. Eine Mondsichel zeichnet das Gesicht. Die Seifenspenderform wird erst von der Seite sichtbar: eine abstrakte Skulptur, ein strenger Guss mit wenig Femininem.
Der Großvater habe intuitiv gearbeitet, erzählt der Miró-Nachfahr, der heute die Stiftung verwaltet. Wertfreien Fundstücken des Alltags galt seine Beachtung, sie inspirierten ihn. Beim Sonntagsessen habe er Opa beobachtet, wie er einen abgenagten Hähnchenknochen vom Teller einsteckte. Später fand sich das Knöchelchen wieder in Kunst. An einem anderen Tisch hatte es ihm die kunstvolle Falttechnik einer Serviette angetan. In solcher Art ummantelte Miró seine grün angemalte Figur „Personnage“von 1982. Die Persönlichkeit ruht auf schweren Füßen. Das linke Bein ist glatt, das rechte von Poren oder Pocken übersät. Man mag es für ein Sinnbild des Menschen mit den zwei Gehirnhälften halten.
Tony Cragg, selber weltweit bedeutender Gegenwartskünstler, hat mit großer Anstrengung seiner Stiftung Weltkunst in das üppig grünende Areal geholt. Das bildhauerische Spätwerk steht für Freiheit, urteilt Cragg. Miró sei ein Erfinder neuer Menschen. Scheinbar absichtslos gelangten diese oft heiteren Wesen nun in unserer Welt, manche tragen monströse Züge. Mit seinem Formenkanon hat Miró gezeigt, was Bildhauerei sein und leisten kann – einen Traum provozieren, eine Fiktion, eine Utopie oder reines Spiel. Miró muss wie mit extremen Sensoren durch die Realität gereist sein, um Dinge zu zeigen, die es eigentlich gar nicht gibt. Cragg sagt: „Mirós Welt ist eine neue Welt. Das Verrückte aber ist, dass es keine andere Welt, sondern unsere Welt ist.“
All die grotesken, mehr oder weniger freundlichen Typen sind im zentralen Pavillon aufgebaut. Manche erinnern – wie der Kopf („Tête“, 1974) – an Vogelwesen und tragen doch menschliche Züge. Vier Augen wurden eingeschlagen, die echten und zwei spirituelle. Diese Nase kann Vogel oder Mensch gehören, ihre Form ist einem Teil des Keramikofens entlehnt. Zuhause ist diese Bronze im Skulpturenpark von Yorkshire. Dessen Leiter ist ebenfalls angereist, und Peter Murray entschuldigt sich tagesaktuell für Premier Boris Johnson. Das, was die Politik nicht schafft, so der Brite, leiste die Kunst. Kommunikation über Grenzen hinweg. Das stimmt. Über große Kunst teilt sich die Welt mit.
So wird man angesichts der Miro‘schen Zauberwesen staunen, lächeln, mutmaßen oder vor Ehrfurcht erstarren. Es sind Weltbotschaften voller Fantasie. Der Künstler, der Bach bei der Arbeit hörte und Gedichte von Rimbaud las, hatte Ende der 1950er Jahre zur Menschlichkeit aufgefordert: „Indem man sich zum Menschen entwickelt, kann man alle Menschen erreichen“.