Rheinische Post - Geldern an Kevelaer
„Die Preise steigen, die Leistungen nicht“
Der AOK-Chef sieht die Kassen an einem Wendepunkt. Er fordert den Gesundheitsminister auf, bei zusätzlichen Ausgaben auf die Bremse zu treten.
Noch wissen wir nicht, ob die Konjunktur nur eine Delle hat oder eine Rezession kommt. Wie gut sind die Krankenkassen vorbereitet?
LITSCH
Wegen der langen Phase wirtschaftlicher Stabilität, gestiegener Löhne und einer hohen Beschäftigung sind die gesetzlichen Krankenkassen trotz der ebenfalls stark gestiegenen Ausgaben aktuell noch in einer guten finanziellen Lage. Unsere Rücklagen sind gefüllt. Das Problem aber ist, dass die laufende Gesetzgebung weitere kräftige Ausgabenschübe verursacht, während unsere Einnahmen nicht mehr im gleichen Umfang steigen. Die Dynamik ist erheblich. Allein das Personalstärkungsgesetz für die Pflege kostet die Gesetzliche Krankenversicherung in diesem Jahr 640 Millionen Euro extra.
Ab wann müssen wir mit neuen Beitragssteigerungen rechnen?
LITSCH
Das kann ich heute nicht mit Gewissheit sagen. Allerdings stehen wir an einem Wendepunkt. Steigen die Ausgaben schneller als die Einnahmen, geht das an die Rücklagen und danach an die Beitragssätze. Die aktuellen Bilanzzahlen zeigen, dass die üppigen Zeiten vorbei sind. Ich kann nur vor weiteren kostenintensiven Gesetzen warnen. Angesichts der konjunkturellen Lage wird es immer schwieriger, den weiteren Anstieg der Kosten auszugleichen.
Muss Spahn auf die Bremse treten? LITSCH
Zwingend. Die zusätzlichen Kosten für die Krankenkassen belaufen sich von 2019 bis 2022 auf rund 29 Milliarden Euro. Die höchsten Summen entfallen auf die Kosten für zusätzliches Pflegepersonal und für die Terminservice-Stellen. Eine solche Summe wäre nur zu rechtfertigen, wenn damit auch echte strukturelle Veränderungen geschaffen würden, die das Gesundheitsangebot für die Versicherten verbessern.
Und das ist nicht der Fall? LITSCH
Die Preise steigen, aber die Leistungen für die Versicherten verbessern sich bisher nicht. Beispiele: Bei den Terminservice-Stellen, die zwischen 2019 und 2022 mehrere Milliarden Euro an zusätzlichen Beitragsmitteln kosten, kann ich bisher keinen echten Nutzen für die Versicherten erkennen. Sie erzeugen vor allem viel Bürokratie. In der Hoffnung, dass die Ärzte ihren Widerstand gegen die Regelungen aufgeben, erhalten sie zusätzliche Honorare in Höhe von jährlich 600 Millionen Euro als Beruhigungspille. Das ist aus meiner Sicht keine nachhaltige Politik. Den gleichen Mechanismus sieht man bei den Apothekern. Auch sie erhalten zusätzliche Vergütungen, damit sie den Versandhandel tolerieren.
In Zeiten knapper Kassen hört man, dass im Gesundheitssystem Effizienzen gehoben werden müssten. Welche gibt es?
LITSCH
Vor allem sollten Möglichkeiten zur effizienten Versorgungsgestaltung nicht eingeschränkt werden. Es war ein Fehler, den Krankenkassen die Möglichkeit zu entziehen, in vielen kostenintensiven Bereichen Ausschreibungen zu machen. Wir dürfen keine Impfstoffe mehr, keine Krebsmittel und auch keine Hilfsmittel mehr ausschreiben. Es ist absurd, das in einem wettbewerblichen System, das auf Qualität und Wirtschaftlichkeit ausgerichtet ist, zu verbieten.
Spahn greift ja in Bereiche ein, die die Akteure selbst regeln konnten. Ist das für Sie akzeptabel?
LITSCH
Was ich bei Herrn Spahn sehr positiv finde ist, dass er jedes relevante Thema anpackt. Damit ist aber noch kein Problem gelöst. An seinen Gesetzen kann ich bisher noch keine nachhaltige Wirkung erkennen. Und die Vorstellung, dass eine Verlagerung der Verantwortung von der Selbstverwaltung hin zum Ministerium etwas besser macht, ist falsch. Insbesondere, wenn es darum geht, welche medizinischen Leistungen Krankenkassen zahlen, müssen wir uns auf neutrale Instanzen und wissenschaftliche Ergebnisse verlassen. Das sollte kein Minister entscheiden.
Wenn sich in der Notfallversorgung Ärzte, Kliniken und Kassen besser verständigen würden, müsste der Gesetzgeber ja nicht eingreifen.
LITSCH
Wenn die Interessen so gegensätzlich sind, dass es keine Verständigung geben kann, dann muss der Gesetzgeber das klären, damit man danach mit klaren Spielregeln wieder konstruktiv miteinander vorankommt.
Was muss gesetzlich geklärt werden, damit die Notfallversorgung besser organisiert werden kann?
LITSCH
Die Kassen fordern, dass die Frage, wo ein Notfall versorgt wird, nicht mehr davon abhängt, ob der Mensch zufällig in ein Krankenhaus oder in eine Praxis-Ambulanz gegangen ist. Vielmehr brauchen wir zentrale Anlaufstellen, sogenannte integrierte Notfallzentren, die entscheiden, ob, wann und wie ein Patient behandelt werden muss. Diese sektorunabhängigen Notfallzentren entscheiden dann auch, ob eine Weiterbehandlung in einem Krankenhaus oder ambulant erfolgen soll. Diese Entscheidung muss organisatorisch und finanziell unabhängig von Budgetinteressen der Krankenhäuser und niedergelassenen Ärzten erfolgen. Nur so werden Fehlanreize vermieden und ausschließlich medizinische Überlegungen über die Behandlung eines Patienten entscheiden.
Wer soll das organisieren? LITSCH
Räumlich sollten die integrierten Notfallzentren an die Krankenhäuser angebunden sein, weil die Menschen im Notfall meistens eine Klinik aufsuchen. Die Verantwortung für die Zentren sollten sich aber Kliniken, Kassenärzte und Krankenkassen teilen – unter der Aufsicht der Länder.