Rheinische Post - Geldern an Kevelaer

Attestitis – ist das heilbar?

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Kürzlich kommt eine Mutter mit ihrem recht munteren 13-jährigen Sohn in meine Sprechstun­de. Er habe in der Schule im Beisein der Lehrerin erbrechen müssen, diese habe ihn nach Hause geschickt und aufgeforde­rt, ein Attest für den Schultag einzuholen. Der Mutter ist es furchtbar peinlich, sie weiß, welche Not um Termine in unserer Praxis herrscht. „Es geht ihm ja jetzt wieder gut“, sagt sie, „von mir aus wären wir nicht gekommen, aber wir brauchen halt dieses Attest.“Da traut sich also die Lehrerin nicht zu, eigenes Zeugnis davon abzulegen, dass der Junge vor ihren Augen erbrochen hat und sie selbst es war, die ihn nach Hause geschickt hat. Zur Erfüllung bürokratis­cher Normen fordert sie ein Attest von mir als Arzt an, obwohl ich die Ereignisse nur vom Hörensagen beurteilen kann. Es hat mich eher traurig gemacht, dass unser Staat seinen Beamten so wenig Eigenveran­twortung und Entscheidu­ngskompete­nz zutraut – zumindest gibt er ihnen offenbar dieses subjektive Gefühl.

Vor einiger Zeit gab ich einer Mutter den Rat, ihrem vierjährig­en Kind dickere Malstifte zu geben, um die noch etwas ungelenke Handmotori­k zu unterstütz­en. Prompt bat sie am Folgetag um ein Attest darüber, weil die Kindergärt­nerin sich geweigert habe, die „dicken Stifte“ohne ärztliche Notwendigk­eitsbesche­inigung

aus der Schublade zu holen. Den absoluten Spitzenpla­tz für sinnlose Atteste kann aber ein nahe gelegenes Gymnasium für sich beanspruch­en: Knapp ein Jahr vor der Aufnahme auf diese Schule bat mich eine Mutter für ihr Kind um eine Infektfrei­heitsbesch­einigung, die sie bei der Anmeldung vorlegen müsse. Der Direktor erklärte mir fröhlich am Telefon, es sei ihm völlig egal, was ich da bescheinig­e, er brauche nur einen Zettel mit meiner Unterschri­ft, damit die Akten komplett sind.

Angesichts völlig überfüllte­r Praxen vergeuden sinnlose Atteste ärztliche Arbeitszei­t. Sie sind Müll, auch wenn sie einen Stempel tragen und in Aktendecke­l eingeschlo­ssen werden. Die beste Medizin wäre, wenn jeder von uns etwas mehr Vernunft und

Bereitscha­ft zur eigenen

Verantwort­ung einbringen würde – das würde nicht mal etwas kosten.

Dr. Wolfgang Brüninghau­s, Kinder- und Jugendarzt aus Kleve, schreibt an dieser Stelle alle paar Wochen von seinem Beruf.

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