Rheinische Post - Geldern an Kevelaer
Der ohnmächtige Staat
Immer mehr Kommunalpolitiker sehen sich Hass und Hetze ausgesetzt und werden bedroht – besonders über das Internet. Dort bleiben sie den Hasstiraden meist schutzlos ausgeliefert.
Das Phänomen ist beklemmend und zeigt die Machtlosigkeit des Staates auf: Ein Bürgermeister will sich bewaffnen, um sich zu schützen; dahinter steht die Furcht, dass die Polizei ihn nicht schützen kann. Die nun allseits zu hörende Mahnung, auf Waffen zu verzichten, hat auch etwas Wohlfeiles. Möge jeder sich selber prüfen: Ab der wievielten Morddrohung kriechen einem Gedanken über Selbstschutz ins Gemüt? Hass und Morddrohungen im Netz werden oft genug nicht geahndet: Das verletzt das Rechtsgefühl, den Rechtsstaat überhaupt. Mehr noch: Der Hass ausgerechnet auf Kommunalpolitiker bedroht die Graswurzeln unserer Demokratie, des Gemeinwesens überhaupt. Der Bundespräsident hat mit seiner Mahnung recht, man müsse Kommunalpolitiker besser schützen. Es gilt jetzt, Alarm zu schlagen.
Der ohnmächtige Rechtsstaat: Der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke, der im Juni 2019 auf seiner Terrasse aus nächster Nähe erschossen wurde, und die heutige Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker, die im Oktober 2015 bei einer Messerattacke auf einer Wahlkampfveranstaltung fast ums Leben gekommen wäre, hatten keine Chance, die Polizei zu rufen. Unsere Behörden sind ja kaum in der Lage, Hassschreiber im Internet zu verfolgen. In der analogen Welt gibt es Vermummungsverbote und Hausdurchsuchungen, es dürfen Telefone abgehört, Personen ausgespäht werden. Und im Internet? Die digitalen Geheimräume, in denen Hass und Gewaltpläne geschmiedet werden, bleiben oft unangetastet. Die Regeln, die analog seit langem gelten, sind digital faktisch oft außer Kraft gesetzt. Die Täter bleiben im Netz vermummt.
Spricht man mit Rechtspraktikern wie Oberstaatsanwalt Axel Stahl aus Krefeld, ist die Enttarnung von Hass- und Mordrednern
„nicht primär ein Problem der Rechtsgrundlage“. Es gibt ihm zufolge technische, personelle und ermittlungstaktische Probleme. Technisch: Wer unbedingt anonym im Netz bleiben will, hat gute Chancen, es zu bleiben. „Rechtsextremisten sind keine Dummbratzen“, sagt Stahl, „die sind sehr konspirativ unterwegs.“Heißt: Sie kennen die Tricks, anonym zu bleiben. Es sei nicht so schwierig, den Provider auszumachen, über den etwa von einer fiktiven Mailadresse aus Drohungen versandt werden, erläutert Stahl, „aber schwierig ist es nachzuweisen: Von welchem Rechner kam die Mail tatsächlich?“Die letzten 40 Zentimeter vom Bildschirm in die analoge Welt zu einem konkreten Schreiber: Genau dort liegt die Beweisnot. Personelle Probleme: Den Ermittlungsund Verfolgungsbehörden fehlten schlicht Leute, erläutert Stahl weiter. Das ermutige die Täter; der Staat habe ein „Durchsetzungsproblem“, das „reale Verfolgungsrisiko“für Hassschreiber sei eher gering. Die bittere Bilanz: In der analogen Welt haben Gewalttäter reale Polizisten im Nacken, im Internet haben sie, wenn sie nur geschickt genug sind, freie Bahn.
Ermittlungstaktik: Facebook hat seinen Sitz in Irland, Ermittlungen über Grenzen hinweg sind Stahl zufolge kompliziert und komplex. „Die Durchsetzung von Ermittlungsersuchen ist ausgesprochen schwierig“, sagt er.
Der europäische Ableger von Facebook ist eine Gesellschaft in Irland; die deutsche Domain facebook.de ist auf die irische Gesellschaft registriert. Es gibt zwar auch einen deutschen Ableger, die Facebook Germany GmbH, doch sie verweist bei inhaltlichen Beanstandungen lediglich auf die irische Gesellschaft. Deutsche Ermittler müssen demnach, wenn sie gegen Rechtsverletzungen bei Facebook ermitteln, über irische Behörden gehen. Es ist, als müsse man für eine Hausdurchsuchung in Deutschland beim irischen Staat um Erlaubnis fragen. Die Erfahrung lehrt:
Auch dieser bürokratische Aufwand schützt die Täter.
So schreitet der Prozess, Facebook wie überhaupt das Internet rechtlich einzuhegen, nur langsam voran. Unsere Kommunalpolitiker bleiben Hasstiraden aus dem Netz oft genug schutzlos ausgeliefert. Um die Tiefe dieser Krise zu verstehen, ist es wichtig, sich noch einmal vor Augen zu führen, wer da bedroht wird. Kommunalpolitiker kommen aus dem Ehrenamt; Kommunalpolitik ist weder glanzvoll noch lukrativ. Lokalpolitiker befassen sich mit Bebauungsplänen, Ampelanlagen, Kanalbenutzungsgebühren und Straßenbelägen. Große Politik und ideologische Schlachten sind diesem Milieu fremd. Auch die Aufnahme von Flüchtlingen war auf kommunaler Ebene in der Hauptsache ein praktisches Problem, die Entscheidung, sie aufzunehmen, fiel in Berlin. Allerdings haben Kommunalpolitiker landauf, landab versucht, diese Aufgabe mit Anstand zu lösen.
In einer Stadt wie Krefeld gab es von Anfang an ein stabiles und breites zivilgesellschaftliches Bündnis aus Politik, Sport-, Brauchtums- und Bürgervereinen, sich dieser Pflicht zu stellen. In der Kommunalpolitik schlägt die Stunde der kleinen Lösungen für große Beschlüsse: Welche Turnhallen und Wohnungen kann man belegen, was kosten Traglufthallen und wo haben sie Platz? Kommunalpolitik ist bei alledem die entscheidende Stelle hinterm Komma der großen Politik: Dort wird der große Begriff vom Gemeinwesen konkret.
Insofern greifen Hassredner, wenn sie Kommunalpolitiker angreifen, alles an, was in unserem politischen Gefüge glückt. Vielleicht speist sich daraus auch der Hass auf diese Schicht bürgerlicher Selbstverwaltung: Kommunalpolitiker stehen am Ende dafür, ob und wie die Idee der Demokratie in der Wirklichkeit ankommt. Kommunalpolitik ist darin auf leise, undramatische Art viel stärker Bollwerk der Demokratie, als es der Ausschussalltag mit kleinen Themen und schlechten Reden ahnen lässt. Wenn unser Staat diese Politiker nicht schützen kann, gibt er sich leise, still und schleichend auf.
Die Regeln, die analog seit langem gelten, sind digital faktisch oft außer Kraft gesetzt