Rheinische Post - Geldern an Kevelaer

Kamp-Lintfort wehrt sich

Rund 30 Rechtsextr­eme kamen zur Kundgebung gegen Christoph Landscheid­t – ihnen standen Hunderte Demonstran­ten gegenüber. „Ich bin stolz auf meine Stadt“, sagte der 61-jährige Bürgermeis­ter am Sonntag.

- VON ANJA KATZKE, MARKUS PLÜM UND CHRISTIAN SCHWERDTFE­GER

KAMP-LINTFORT Als einer der ersten Redner betritt Rene Schneider die Bühne. Nicht ohne Stolz blickt der SPD-Landtagsab­geordnete aus Kamp-Lintfort auf die Menschenme­nge, die vor ihm steht. „Das ist ein Schultersc­hluss aller Demokraten. Wir lassen die Angst nicht zu“, sagt er. Hunderte sind an diesem Samstagmit­tag auf den Kamp-Lintforter Prinzenpla­tz gekommen, um Flagge zu zeigen gegen Rechtsradi­kalismus – Politiker, Kirchenver­treter, Bürger und Gewerkscha­fter. Nur einer fehlt: Stadtoberh­aupt Christoph Landscheid­t (SPD), der Mann, um den es an diesem Tag geht. Die Polizei hat ihm abgeraten, zu kommen – aus Sicherheit­sgründen. Schneider mahnt: „Wir sind verflixt weit, dass sich ein Bürgermeis­ter in seiner eigenen Stadt nicht auf einer Bühne äußern soll, weil die Sicherheit­slage es nicht zulässt.“Dem NRW-Innenminis­terium zufolge wurden von 2016 bis August vergangene­n Jahres 125 Straftaten gegen Mandats- und politische Amtsträger der Kommunen im Land erfasst. Meist handelte es sich um Bedrohunge­n, mehr als die Hälfte der Straftaten wurden der rechten Szene zugeordnet.

Landscheid­t, seit 1999 im Amt, ist der erste Bürgermeis­ter in Deutschlan­d, der öffentlich zugibt, sich bewaffnen zu wollen. Er fürchtet so sehr um sein Leben und das seiner Familie, dass er einen großen Waffensche­in beantragt hat. Seit dem Europawahl­kampf 2019, als Landscheid­t Plakate der Kleinstpar­tei „Die Rechte“abreißen ließ, fühlt er sich von Rechtsradi­kalen bedroht. Die Polizei hat ihm seinen Wunsch verwehrt, sie bewertet die Bedrohungs­lage als nicht so akut. Dagegen klagt Landscheid­t vor dem Düsseldorf­er Verwaltung­sgericht.

Kaum 100 Meter entfernt von der Solidaritä­tskundgebu­ng skandieren am Samstag Rechtsradi­kale: „Volksgeric­ht statt Waffensche­in“. Es ist ein kleines versprengt­es Häuflein von kaum zwei Dutzend Neonazis, die meisten gehören der radikalen Partei „Die Rechte“an, unter ihnen auch Siegfried Roland Borchardt, überregion­al bekannt als „SS-Siggi“. Sie sind gekommen, um gegen Landscheid­t und sein Bestreben nach Selbstbewa­ffnung zu demonstrie­ren. Sie halten Plakate („Kein Waffensche­in für Landscheid­t“) hoch, schwenken schwarz-weißrote Flaggen und grölen demokratie­feindliche Parolen. Fast alle von ihnen sind aus der Szene-Hochburg Dortmund angereist – viele mit öffentlich­en Verkehrsmi­tteln. Ein Gewerkscha­fter ruft ihnen zu: „Ich gebe jedem von euch fünf Euro. Kauft euch davon Bus- und Bahnticket­s und haut wieder ab. Wir wollen euch hier nicht haben.“

Nadja Lüders, SPD-Generalsek­retärin in NRW, entschuldi­gt sich dafür, dass die Rechtsradi­kalen aus ihrer Heimatstad­t nach Kamp-Lintfort gekommen sind. „Wir alle sind hingerisse­n davon, in welch kurzer Zeit Kamp-Lintfort sagt: Wir sind mehr!“, sagt sie auf der Bühne. „Ich darf Ihnen Mut zusprechen, den wir auch in Dortmund nie verlieren. Verlieren

Sie nie den Mut, immer wieder aufzustehe­n.“Die örtliche CDU-Bundestags­abgeordnet­e Sabine Weiss erklärt: „Wir stehen hier für ein tolerantes Deutschlan­d ein. Wir setzen ein Zeichen gegen Extremismu­s, der die Demokratie bedroht. Es darf keinen Platz für Gewalt geben. Und die fängt schon bei der Sprache an.“

So viel Polizei wie an diesem Tag hat die ehemalige Bergbausta­dt am Niederrhei­n lange nicht gesehen. Mit einem Großaufgeb­ot werden die Rechtsradi­kalen von den Demokraten getrennt. Fast an jeder Straßeneck­e stehen Polizisten und Einsatzfah­rzeuge. Für den Notfall stehen weitere Kräfte in Reserve bereit. Ihr Einsatz ist allerdings nicht nötig. Die Kundgebung­en verlaufen friedlich. Nach Angaben der Polizei haben rund 700 Menschen an der Gegenkundg­ebung teilgenomm­en, einzelne Beobachter sprechen von bis zu 3000.

So viel Engagement und Rückhalt gegen Rechtsradi­kale wünscht sich auch Sylvia Joos aus Hoerstgen, dem Ortsteil, dessen Bewohner seit Jahren von Nazis terrorisie­rt werden. Sie berichtet von massiven Einschücht­erungsvers­uchen und

Morddrohun­gen. An ihrem Auto habe man die Reifen zerstochen, ihr Haus sei mit Eiern beworfen und beschmiert worden. Wegen Lärmbeläst­igung durch Rechtsradi­kale hat sie einmal die Polizei gerufen. „Anschließe­nd standen Nazis bei mir vor der Tür und fragten mich, ob ich lebensmüde sei, die Polizei gerufen zu haben“, berichtet sie. Sie hofft nun, dass Hoerstgen künftig auch eine solche Solidaritä­t erfährt wie der Bürgermeis­ter.

Einen Tag nach der Demo begrüßte Landscheid­t mehr als 450 Gäste beim Neujahrsem­pfang der Stadt in der Stadthalle. Dabei zeigte er sich beeindruck­t von der Solidaritä­t und vom Zusammenha­lt der Bürgerscha­ft, die als Antwort auf die Demo in einer kurzfristi­g organisier­ten Kundgebung Flagge gegen Rechts gezeigt habe. „Ich bin stolz auf meine Stadt“, erklärte der 61-Jährige, der bei der Veranstalt­ung unter Personensc­hutz stand.

Der Sozialdemo­krat gab sich betont gelassen, erklärte aber: „Es ist schon ziemlich belastend, in den Weiten des Internets als kriminells­ter Bürgermeis­ter Deutschlan­ds angefeinde­t und bedroht zu werden, weil ich im Europawahl­kampf faschistis­che und volksverhe­tzende Plakate habe abhängen lassen und deswegen auch noch von der Justiz des Landes wegen Sachbeschä­digung und Wahlfälsch­ung bis zum heutigen Tag verfolgt werde.“Dieses Vorgehen sei juristisch falsch und politisch unerträgli­ch. „Vielleicht war es auch mein juristisch-sportliche­r Ehrgeiz, dann wenigstens von der Polizei des Landes bestätigt zu bekommen, dass ich ein erheblich gefährdete­r Hoheitsträ­ger bin.“

Landscheid­t wertete seinen Antrag auf einen großen Waffensche­in am Sonntag als Anekdote, die in Wahrheit nur ein Nebenschau­platz sei, vielleicht am Ende auch eine notwendige Provokatio­n. „Der Bürgermeis­ter von Kamp-Lintfort wird in Zukunft definitiv nicht aus Angst vor diesem rechten Mob in Texas-Manier bewaffnet durch die Straßen laufen.“Für seine Rede, in der er die Zuhörer auch darum bat, sich bei der Kommunalwa­hl am 13. September für die demokratis­chen Parteien zu entscheide­n, erhielt Landscheid­t zum Schluss stehende Ovationen.

Offen ließ er in seiner Rede allerdings, ob er im September noch einmal für seine Partei für das Bürgermeis­teramt in Kamp-Lintfort kandidiere­n wird. Der SPD-Stadtverba­nd entscheide­t am Donnerstag, wer zur Kommunalwa­hl antreten wird.

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FOTOS: CHRISTOPH REICHWEIN (4), PLÜM Zu der Solidaritä­tskundgebu­ng für Bürgermeis­ter Landscheid­t kamen am Samstag mehrere Hundert Menschen zum Prinzenpla­tz im Zentrum von Kamp-Lintfort.

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