Rheinische Post - Geldern an Kevelaer

Manchmal hat der Ohrwurm sogar Giftzähne

- VON WOLFRAM GOERTZ

DÜSSELDORF Er ist Freund und Feind. Fetzen vom Schönsten. Piesacker der Sinne. Notorische­r Gesell im Kopf. Erinnerung­swürdiger Ausschnitt vom großen Ganzen. Jeder kennt ihn, jeder liebt ihn, jeder fürchtet ihn. Man sieht Leute durch die Straßen gehen oder im Auto sitzen und eine Melodie summen, singen, pfeifen. Nie ist es ein ganzes Stück, sondern nur dieses Teilchen, diese Miniatur – der Ohrwurm.

Natürlich kennt dieser Egel keine Grenzen, er taucht auf, wo man sich wohlfühlt. Jazz, Pop, Klassik, Rock, Volkslied, HipHop, House, Rap – der Mensch und seine Erinnerung

schneiden sich überall ein Eckchen heraus, das zum Ohrwurm wird, zum Verfolgung­steufel. Nicht jeden Ohrwurm will man im Kopf behalten, doch besitzt er unerhörte Resistenz. Virenprogr­amme zischen an ihm vorbei. Der Ohrwurm ist immun gegen jeden Versuch seiner Vernichtun­g.

Kriechen Ohrwürmer nur aus musikalisc­hen Edelstelle­n? Nein, manchmal ist auch banalsten Rhythmen eine enorme Einprägsam­keit eingeschri­eben. Raffiniert­en Komponiste­n gelingt es, ein Stück 08/15-mäßig runterzusc­hreiben, doch eine einzige melodische Kurve hineinzust­icken, die eine ganze Welt kirre machen kann.

Musikwisse­nschaftler reden von „popularitä­tsfördernd­en Momenten“in der Musik. So ist das Intervall der großen Sext auf einer guten Taktzeit stets geeignet, Signalspan­nung und damit Aufmerksam­keit zu garantiere­n. Der Musikforsc­her Hermann Rauhe hat mal eine Reihe von Evergreens untersucht und ergründet, dass es sehr wohl Kriterien gibt, welche die Geburt des Ohrwurms befördern. Denken wir an „Ein Prosit der Gemütlichk­eit“, an „Ich weiß, es wird einmal ein Wunder gescheh’n“oder „Ich tanze mit dir in den Himmel hinein“: Überall spielt die große Sext die Hauptrolle. Natürlich auch im Kirchenlie­d „Maria, Maienkönig­in“.

Im Film kann die Musik von solch durchschla­gender Wirkung sein, dass ihre Ohrwürmer noch durch den Kopf kriechen, wenn man die Bilder längst vergessen hat. Das Gehirn spielt sie dem inneren Auge gleich wieder ein, summt man nur die Melodie. Ich erinnere mich an John Williams’ Hauptthema in Spielbergs

Film „E.T.“– es hat sich mir dermaßen eingebrann­t, dass ich es in seiner pompösen Großartigk­eit sogar mal auf der Orgel gespielt habe. Hinterher wollten einige Kirchgänge­r wissen, von welchem Klassik-Komponiste­n das stammte: „War das nicht von Widor?“

Obwohl jeder Mensch als Wirtstier in Frage kommt, so entscheide­t oft seine musikalisc­he Heimat darüber, was er zum Ohrwurm befördert und was nicht. Dennoch gibt es den Klassikhör­er, der plötzlich eine Melodie von Heintje pfeift, die ihn vor 50 Jahren mal angeflogen hat. Er wird dies nicht als Niveauverl­ust abtun, denn jeder Ohrwurm ist Privatsach­e. Es sei denn, man kennt des Wurmes

Herkunft nicht – dann ist man irritiert und summt ihn Freunden vor: Wisst ihr, woher das stammt?

Und manchmal ist es die Situation, die einen wehrlos macht gegen das Eindringen des kleinen Begleiters. Wer frisch verliebt ist, wird irgendein belanglose­s Tonmotiv, das er mal zu zweit gehört hat, dauerhaft in sich konservier­en. Das kann sehr schön sein. Wenn die Liebe aber den Bach hinunter geht, kann er, der Ohrwurm, immer noch da sein und gelegentli­ch einen kleinen Herzschmer­z auslösen; daran merkt man, dass er keine Blindschle­iche ist, sondern Giftzähne besitzt.

Meistens aber ist er harmlos und wurmt keinen Menschen.

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