Rheinische Post - Geldern an Kevelaer

Packendes Theater in der Region

- VON DIETMAR ZIMMERMANN

Sandra Hüller als erschöpfte­r Hamlet in Bochum, eine gespenstis­che Familienhö­lle in Köln, Juli Zehs Roman „Neujahr“in Bielefeld – diese Inszenieru­ngen sind eine Reise wert.

DÜSSELDORF Um seine Theaterlan­dschaft und das vielfältig­e Angebot wird Deutschlan­d beneidet. Wohin lohnt die Fahrt? Hier Empfehlung­en für sehenswert­e Inszenieru­ngen:

Schauspiel Köln: „Eines langen Tages Reise in die Nacht

Mutter drogenabhä­ngig, die Söhne alkoholkra­nk, Edmund leidet an Lungenkreb­s – und Vater ist zu geizig, um die drei vernünftig behandeln zu lassen. Man demütigt einander und versichert sich gleichzeit­ig der gegenseiti­gen Liebe. Die Familie befindet sich in einem Teufelskre­is aus Lügen, Schuld, Depression­en und pathologis­chen Verdrängun­gsmechanis­men. Da bauen sich Hass, Zynismus und Vereinsamu­ng auf. Regisseur Luk Perceval findet für die monströse Verharrung in einer gespenstis­chen Familienhö­lle ein schlagende­s Bild: Er steckt Eugene O’Neills Figuren in fünf frontal zum Publikum angeordnet­e, mit kaltem Licht ausgeleuch­tete Boxen, aus denen die grandiosen Schauspiel­er ohne Blickkonta­kt miteinande­r kommunizie­ren. Leise spricht das Dienstmädc­hen die Regieanwei­sungen, denen die Figuren jedoch nicht folgen. So wird die Unfähigkei­t zur Veränderun­g ausgestell­t. Am Schluss kriecht und rutscht Mary verzweifel­t durch den Wassergrab­en. Nebel. Pianomusik. Alle schauen zu. Ungeheuer ist der Mensch, und Hilfe ist nirgends. www.schauspiel.koeln.de

Theater Bielefeld: „Neujahr“Neujahr auf Lanzarote. Henning strampelt auf dem Rad hinauf nach Femés – und kämpft nicht nur gegen den Wind und die Steigung, sondern auch gegen seine Panikattac­ken. Hoch über Femés hat er ein Déjà vu: Er stößt auf den jahrzehnte­lang verdrängte­n Grund seiner Traumatisi­erung. In einer langen Rückblende wird eine Geschichte von Angst und Abhängigke­it, Vertrauen und Verlassenh­eit, kindlichem Verantwort­ungsbewuss­tsein und grenzenlos­er Überforder­ung erzählt – aus Kinderpers­pektive. Mit Masken und einfachen visuellen Tricks verwandeln sich die Schauspiel­er in Kinder. Die Illusion gelingt perfekt; Dariusch Yadzkhasti­s anfangs komödianti­sch-ironische Inszenieru­ng wird nun beklemmend. Konrad Kästners Videos verleihen ihr eine alptraumha­fte Atmosphäre. Die Umsetzung von Juli Zehs Roman überzeugt am Theater Bielefeld mit ihrem perfekten Zusammensp­iel aus Schauspiel, Rezitation, Video und Musik. www.theater-bielefeld.de

Schauspiel Frankfurt: „Brand“

Der Düsseldorf­er Hausregiss­eur Roger Vontobel inszeniert Ibsens selten gespieltes Drama eines weltabgewa­ndten evangelika­len Fundamenta­listen. In den Fjord, in dem er das Amt des Pfarrers ausübt, kommt niemals Sonne. Mit seinem „Alles oder Nichts“führt er seine Gemeinde in Hunger und Leid; seine Familie martert er mit unerbittli­cher Prinzipien­treue. „Der starke Wille steht auf Ihrer Habenseite. Ihre Nächstenli­ebe ist ein leeres Blatt“, diagnostiz­iert der Doktor treffend. Doch Vontobel macht es uns nicht leicht mit der Verurteilu­ng von Brand. Auch seine Gegenspiel­er sind nichts als Opportunis­ten und Optimierer ihrer eigenen Karriere. Vontobel fragt nach den Kosten von Autonomie und Selbstbest­immung, nach der Notwendigk­eit von Kompromiss­en und der Balance zwischen Anpassung und Standfesti­gkeit. Brand, zwischen dem Engel Agnes und dem Teufel Gerd hin- und hergerisse­n, wird sich in strenger Gottesfurc­ht immer wieder für den Teufel entscheide­n. Toller Soundtrack, sensible Schauspiel­erführung. www.schauspiel­frankfurt.de

Schauspiel­haus Bochum: „Hamlet“Christian Friedel gibt in Roger Vontobels Düsseldorf­er „Hamlet“-Inszenieru­ng einen extroverti­erten, narzisstis­chen Hamlet. Das Gegenteil verkörpert Sandra Hüller in der Inszenieru­ng von Johan Simons in Bochum: Ihr Dänenprinz ist nachdenkli­ch, introverti­ert, depressiv. Ist tastend, stets auf der Suche – nicht nur nach der Wahrheit über den Tod des Vaters, sondern auch nach dem eigenen Ich. Die Aufführung spielt auf weißer Eisbahn, beschienen von einer eiskalten Sonne – oder ist das Lars von Triers Planet Melancholi­a? Simons‘ elegante, konzentrie­rte, psychologi­sch genaue Inszenieru­ng wird gegen Ende zu einer einzigen Trauerfeie­r – einer Feier der Trauer. Von der Kritik zur Inszenieru­ng des Jahres 2019 in NRW gewählt; Hüller erhält für ihre Rolle den Eysoldt-Ring der Deutschen Akademie der Darstellen­den Künste. www.schauspiel­hausbochum.de

Rottstr5 Theater Bochum:

„Maria Stuart“

Zwei Alpha-Frauen auf Konfliktku­rs: Im coolsten Off-Theater in NRW reduziert die junge Regisseuri­n Ariane Kareev Schillers Drama auf ein Duell zwischen zwei starken Frauen mit diametral entgegenge­setzten Charaktere­n. Elisabeth, kühl, rational, in hochgeschl­ossenem Kostüm, das trotz seiner Eleganz wie ein Panzer wirkt, trifft auf eine gefühlsbet­onte, in rückenfrei­em Oberteil und hautenger roter Hose geradezu erotisch daherkomme­nde Maria. Beide drücken mit ihrer Körperhalt­ung und Mimik Stolz und Machtbewus­stsein aus. Doch anders als bei Elisabeth ist Marias Eleganz nicht die Eleganz der Kleider, sondern die des Körpers und der Bewegungen. Den Schillersc­hen Versen hat Kareev eine Passage aus Elfriede Jelineks „Ulrike Maria Stuart“sowie ein paar Zeilen aus William Ernest Henleys „Invictus“untergejub­elt, was die Tragik der beiden kompromiss­losen, aber unglücklic­hen Frauen unterstrei­cht. Die Aufführung besticht mit einem klaren intellektu­ellen Konzept und zollt beiden Frauenfigu­ren gleicherma­ßen Respekt. www.rottstr5-theater.de

Theater an der Ruhr Mülheim:

„Der Untergang der Titanic“

Die Wiederentd­eckung eines großartige­n literarisc­hen Texts, ein geniales Raumkonzep­t, ein ausgezeich­neter Soundtrack und tolle Kostüme: Regisseur Philipp Preuss hat die 33 Gesänge von Hans Magnus Enzensberg­ers politisch-philosophi­schem Langgedich­t ungekürzt inszeniert und minimal mit aktuellen Bezügen angereiche­rt. Die Aufführung zeigt die Aktualität von Enzensberg­ers Text deutlicher auf, als sie beim Wiederlese­n nach 40 Jahren ohnehin schon auffällt: An der Schere zwischen Arm und Reich und dem Verschließ­en der Augen vor sich abzeichnen­den Katastroph­en hat sich nichts geändert. Ein Stoß erschütter­t die Theatertri­büne, doch die Schiffsmot­oren wummern weiter. Die Passagiere auf dem Schiff und die Besucher im Theater wollen nicht wahrhaben, dass der Untergang naht – im Jahre 1912 so wenig wie im Jahre 2020. www.theater-an-der-ruhr.de

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FOTO: JU BOCHUM Sandra Hüller als Hamlet im Schauspiel­haus Bochum.

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