Rheinische Post - Geldern an Kevelaer
,,Sozialliberal hat Potenzial''
Der SPD-Fraktionschef im Landtag sieht Chancen für eine Koalition mit den Liberalen in NRW. Gemeinsamkeiten sieht er in der Schul-, der Integrations-, aber auch in der Wirtschaftspolitik.
DÜSSELDORF Thomas Kutschaty bevorzugt das Meer. Den Jahreswechsel verbrachte der SPD-Landesfraktionschef mit seiner Familie nicht in den Bergen, sondern an der Nordsee. Von dort bringt er überraschende Vorstöße mit.
Herr Kutschaty, die SPD in NRW hat seit der Landtagswahl an Zustimmung verloren und steht Umfragen zufolge bei 20 Prozent. Was machen Sie falsch?
KUTSCHATY Erst einmal ist doch festzuhalten, dass die CDU/FDP-Landesregierung nach zweieinhalb Jahren keine Mehrheit mehr hat – in keiner Umfrage. Aber richtig ist auch, dass wir als SPD noch nicht da sind, wo wir sein wollen: Stärkste Fraktion und 2022 wieder den Ministerpräsidenten stellen.
Davon sind Sie weit entfernt. Welche Optionen sehen Sie, überhaupt wieder in Regierungsverantwortung zu kommen?
KUTSCHATY In der heutigen Parteienlandschaft muss man schon schauen, mit wem man zusammenarbeiten kann. Das zeigen die Wahlen auch in anderen Bundesländern. Warum nicht auch über eine sozialliberale Renaissance nachdenken? Das könnte großes Potenzial entwickeln.
Eine Neuauflage der sozialliberalen Koalition? Selbst Johannes Kahrs, Chef des konservativen Seeheimer Kreises in der SPD, sagte noch diese Woche: „Klassische SPD-Wähler sind nicht in Gefahr, für eine neoliberale Lindner-Partei zu stimmen.“Sie als bekennender Partei-Linker sehen das anders?
KUTSCHATY Ich beobachte verschiedene Strömungen in der FDP. Interessant ist, dass FDP-Chef Christian Lindner sich vor die Werkstore stellen will. Da kann er sich gern zu uns stellen. Ich weiß nur nicht, worüber er mit den Arbeitern reden will: über weniger Tarifverträge, mehr Leiharbeit oder niedrigere Unternehmenssteuern? Die Lindner-FDP kann in dieser Form sicher nicht unser Partner werden, aber mit den Liberalen in NRW sehe ich durchaus Gemeinsamkeiten.
Welche?
KUTSCHATY Hier in NRW waren es die Liberalen Burkhard Hirsch und Gerhart Baum, die zusammen mit uns die CDU überzeugen konnten, das NRW-Polizeigesetz auf eine neue verfassungsrechtliche Grundlage zu stellen. Der freiheitliche Gedanke, die Idee starker Individuen und Bürgerrechte ist in der FDP so weit verbreitet wie in der SPD. Dies schließt nicht aus, dass wir auch einen starken Staat haben müssen für die Schwachen. Die Widersprüche zwischen SPD und FDP sind also gar nicht so groß. Es gibt genügend Ansatzpunkte, wo eine sozialliberale Zusammenarbeit möglich wäre.
Die FDP in NRW steht aber zum Beispiel für ein Bremsen der Inklusion in Schulen…
KUTSCHATY Gerade in der Bildungspolitik lässt sich an alte sozialliberale Zeiten anknüpfen: Schulministerin Gebauer will – wie ich lese – jetzt ja offenbar doch einen Sozialindex einführen, durch den Schulen in benachteiligten Vierteln mehr Ressourcen erhalten sollen. Das ist schon lange unsere Forderung. Wir werden genau schauen, wie er aussehen soll und ob er sich auch finanziell auswirkt. Klar ist, dass es nicht nur 60 Talentschulen geben kann. Jede Schule soll eine Talentschule sein. Gemeinsamkeiten kann es mit der FDP aber auch in der Integrationspolitik geben.
FDP-Wirtschaftsminister Pinkwart treibt die Entfesselung der Wirtschaft voran. Teilen Sie das auch?
KUTSCHATY Die Entfesselung ist nur ein Zaubertrick, da ist doch gar nicht viel passiert. Es gibt auch mit Herrn Pinkwart Gemeinsamkeiten. Zum Beispiel in der Frage, alte Kohlekraftwerke abzuschalten und dafür ein neues, nämlich Datteln IV, in Betrieb zu nehmen. Es gibt also durchaus Optionen, mit den Liberalen wieder gemeinsam eine Regierung bilden zu können. Außerdem: Für die FDP wird es mit der CDU allein in NRW nicht mehr reichen. Auch die FDP muss sich daher Gedanken machen, wie sie künftig auf Regierungsmehrheiten kommen will.
SPD und FDP kämen aber bei Weitem nicht auf eine Mehrheit...
KUTSCHATY Das werden wir sehen. Das Ganze könnte mehr sein als die Summe seiner Einzelteile.
Wie wollen Sie im Landtag als schlagkräftiger Oppositionsführer auftreten, wenn Sie mit der FDP als Koalitionspartner liebäugeln?
KUTSCHATY Mal langsam. Es gibt weiterhin auch Unterschiede. Natürlich machen wir deutlich, dass wir mit dem Zurückdrehen der Inklusion in Schulen nicht einverstanden sind, um nur ein Beispiel zu nennen. Oder dass die Reform des Kinderbildungsgesetzes nicht gelungen ist. Aber es wäre falsch, sich jetzt unheilbare Verletzungen zuzufügen.
Wie steht die FDP zu Ihren Avancen?
KUTSCHATY Es gibt gute Gespräche, Austausche und Debatten. Viele Liberale im Land sehen – auch angesichts der Stärke der Grünen - dass sie sich nicht nur an die CDU ketten können. Aber eine Pizza-Connection wie zwischen CDU und Grünen ist das zwischen SPD und FDP noch nicht.
Haben Sie die NRW-Grünen schon an die CDU verloren gegeben?
KUTSCHATY Natürlich sind die Grünen weiterhin ein natürlicher Koalitionspartner. Die größten Schnittmengen haben wir nach wie vor mit den Grünen.
Wo halten Sie die Landesregierung für besonders angreifbar?
KUTSCHATY In der Wohnungs- und in der Verkehrspolitik. Allein die Zahl der neu gebauten Sozialwohnungen ist zwischen 2016 und 2018 von 9300 auf 6100 gesunken. Da hilft die Eigenheimförderung von
CDU-Bauministerin Ina Scharrenbach den Bedürftigen auch nicht weiter. Und auch das Wahlversprechen der CDU von weniger Staus wurde nicht erfüllt. Im Gegenteil. Außerdem müssen die Vernetzung der Mobilität und der Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs viel schneller vorankommen. Da ist kein Konzept erkennbar.
Sie haben die Kandidatur des neuen SPD-Chefs Norbert Walter-Borjans öffentlich unterstützt und dabei für den Ausstieg aus der Groko plädiert. Nun sieht es nicht mehr danach aus. Wie können Sie das vor Ihrer Parteibasis rechtfertigen?
KUTSCHATY Es kann immer noch zu einem Bruch der großen Koalition in Berlin kommen – die Nachverhandlungen haben ja nicht einmal begonnen. Zur Erinnerung: Die SPD hat auf ihrem Bundesparteitag den Beschluss getroffen, über einige Themen mit der CDU zu verhandeln, darunter der Mindestlohn ab 12 Euro, zusätzliche Infrastrukturausgaben und Klimaschutz. Jetzt gilt es, darüber Gespräche zu führen.
Ist die Unbeliebtheit der Groko eine schwere Hypothek für die SPD bei den Kommunalwahlen im September 2020 in NRW?
KUTSCHATY Natürlich wäre es leichter mit Rückenwind aus Berlin, aber Kommunalwahlen spielen nach eigenen Regeln. Vergangenes Jahr sind wir in die Rathäuser von Sundern, Arnsberg, Schwerte und Stolberg eingezogen – damit hatte auch kaum einer gerechnet.
Welche Ziele setzen Sie sich für die Kommunalwahl?
KUTSCHATY Die SPD stellt in 14 von 23 NRW-Großstädten den Oberbürgermeister, nach der Wahl sollen es natürlich mehr sein. Vor allem in den klassischen sozialdemokratischen Hochburgen Oberhausen, Essen und Köln wollen wir die Rathäuser zurückgewinnen.
Zweieinhalb Jahre als Oppositionschef liegen noch vor Ihnen. Werden Sie oder SPD-Landeschef Hartmann als Kandidat für das Ministerpräsidentenamt antreten?
KUTSCHATY Erst einmal werde ich mich im Frühjahr als Fraktionsvorsitzender zur Wiederwahl stellen. Ein Fraktionschef ist automatisch auch ein Kandidat für das Amt des Ministerpräsidenten. Aber diese Frage stellt sich noch nicht.