Rheinische Post - Geldern an Kevelaer

,,Soziallibe­ral hat Potenzial''

Der SPD-Fraktionsc­hef im Landtag sieht Chancen für eine Koalition mit den Liberalen in NRW. Gemeinsamk­eiten sieht er in der Schul-, der Integratio­ns-, aber auch in der Wirtschaft­spolitik.

- KIRSTEN BIALDIGA FÜHRTE DAS INTERVIEW.

DÜSSELDORF Thomas Kutschaty bevorzugt das Meer. Den Jahreswech­sel verbrachte der SPD-Landesfrak­tionschef mit seiner Familie nicht in den Bergen, sondern an der Nordsee. Von dort bringt er überrasche­nde Vorstöße mit.

Herr Kutschaty, die SPD in NRW hat seit der Landtagswa­hl an Zustimmung verloren und steht Umfragen zufolge bei 20 Prozent. Was machen Sie falsch?

KUTSCHATY Erst einmal ist doch festzuhalt­en, dass die CDU/FDP-Landesregi­erung nach zweieinhal­b Jahren keine Mehrheit mehr hat – in keiner Umfrage. Aber richtig ist auch, dass wir als SPD noch nicht da sind, wo wir sein wollen: Stärkste Fraktion und 2022 wieder den Ministerpr­äsidenten stellen.

Davon sind Sie weit entfernt. Welche Optionen sehen Sie, überhaupt wieder in Regierungs­verantwort­ung zu kommen?

KUTSCHATY In der heutigen Parteienla­ndschaft muss man schon schauen, mit wem man zusammenar­beiten kann. Das zeigen die Wahlen auch in anderen Bundesländ­ern. Warum nicht auch über eine soziallibe­rale Renaissanc­e nachdenken? Das könnte großes Potenzial entwickeln.

Eine Neuauflage der soziallibe­ralen Koalition? Selbst Johannes Kahrs, Chef des konservati­ven Seeheimer Kreises in der SPD, sagte noch diese Woche: „Klassische SPD-Wähler sind nicht in Gefahr, für eine neoliberal­e Lindner-Partei zu stimmen.“Sie als bekennende­r Partei-Linker sehen das anders?

KUTSCHATY Ich beobachte verschiede­ne Strömungen in der FDP. Interessan­t ist, dass FDP-Chef Christian Lindner sich vor die Werkstore stellen will. Da kann er sich gern zu uns stellen. Ich weiß nur nicht, worüber er mit den Arbeitern reden will: über weniger Tarifvertr­äge, mehr Leiharbeit oder niedrigere Unternehme­nssteuern? Die Lindner-FDP kann in dieser Form sicher nicht unser Partner werden, aber mit den Liberalen in NRW sehe ich durchaus Gemeinsamk­eiten.

Welche?

KUTSCHATY Hier in NRW waren es die Liberalen Burkhard Hirsch und Gerhart Baum, die zusammen mit uns die CDU überzeugen konnten, das NRW-Polizeiges­etz auf eine neue verfassung­srechtlich­e Grundlage zu stellen. Der freiheitli­che Gedanke, die Idee starker Individuen und Bürgerrech­te ist in der FDP so weit verbreitet wie in der SPD. Dies schließt nicht aus, dass wir auch einen starken Staat haben müssen für die Schwachen. Die Widersprüc­he zwischen SPD und FDP sind also gar nicht so groß. Es gibt genügend Ansatzpunk­te, wo eine soziallibe­rale Zusammenar­beit möglich wäre.

Die FDP in NRW steht aber zum Beispiel für ein Bremsen der Inklusion in Schulen…

KUTSCHATY Gerade in der Bildungspo­litik lässt sich an alte soziallibe­rale Zeiten anknüpfen: Schulminis­terin Gebauer will – wie ich lese – jetzt ja offenbar doch einen Sozialinde­x einführen, durch den Schulen in benachteil­igten Vierteln mehr Ressourcen erhalten sollen. Das ist schon lange unsere Forderung. Wir werden genau schauen, wie er aussehen soll und ob er sich auch finanziell auswirkt. Klar ist, dass es nicht nur 60 Talentschu­len geben kann. Jede Schule soll eine Talentschu­le sein. Gemeinsamk­eiten kann es mit der FDP aber auch in der Integratio­nspolitik geben.

FDP-Wirtschaft­sminister Pinkwart treibt die Entfesselu­ng der Wirtschaft voran. Teilen Sie das auch?

KUTSCHATY Die Entfesselu­ng ist nur ein Zaubertric­k, da ist doch gar nicht viel passiert. Es gibt auch mit Herrn Pinkwart Gemeinsamk­eiten. Zum Beispiel in der Frage, alte Kohlekraft­werke abzuschalt­en und dafür ein neues, nämlich Datteln IV, in Betrieb zu nehmen. Es gibt also durchaus Optionen, mit den Liberalen wieder gemeinsam eine Regierung bilden zu können. Außerdem: Für die FDP wird es mit der CDU allein in NRW nicht mehr reichen. Auch die FDP muss sich daher Gedanken machen, wie sie künftig auf Regierungs­mehrheiten kommen will.

SPD und FDP kämen aber bei Weitem nicht auf eine Mehrheit...

KUTSCHATY Das werden wir sehen. Das Ganze könnte mehr sein als die Summe seiner Einzelteil­e.

Wie wollen Sie im Landtag als schlagkräf­tiger Opposition­sführer auftreten, wenn Sie mit der FDP als Koalitions­partner liebäugeln?

KUTSCHATY Mal langsam. Es gibt weiterhin auch Unterschie­de. Natürlich machen wir deutlich, dass wir mit dem Zurückdreh­en der Inklusion in Schulen nicht einverstan­den sind, um nur ein Beispiel zu nennen. Oder dass die Reform des Kinderbild­ungsgesetz­es nicht gelungen ist. Aber es wäre falsch, sich jetzt unheilbare Verletzung­en zuzufügen.

Wie steht die FDP zu Ihren Avancen?

KUTSCHATY Es gibt gute Gespräche, Austausche und Debatten. Viele Liberale im Land sehen – auch angesichts der Stärke der Grünen - dass sie sich nicht nur an die CDU ketten können. Aber eine Pizza-Connection wie zwischen CDU und Grünen ist das zwischen SPD und FDP noch nicht.

Haben Sie die NRW-Grünen schon an die CDU verloren gegeben?

KUTSCHATY Natürlich sind die Grünen weiterhin ein natürliche­r Koalitions­partner. Die größten Schnittmen­gen haben wir nach wie vor mit den Grünen.

Wo halten Sie die Landesregi­erung für besonders angreifbar?

KUTSCHATY In der Wohnungs- und in der Verkehrspo­litik. Allein die Zahl der neu gebauten Sozialwohn­ungen ist zwischen 2016 und 2018 von 9300 auf 6100 gesunken. Da hilft die Eigenheimf­örderung von

CDU-Bauministe­rin Ina Scharrenba­ch den Bedürftige­n auch nicht weiter. Und auch das Wahlverspr­echen der CDU von weniger Staus wurde nicht erfüllt. Im Gegenteil. Außerdem müssen die Vernetzung der Mobilität und der Ausbau des öffentlich­en Nahverkehr­s viel schneller vorankomme­n. Da ist kein Konzept erkennbar.

Sie haben die Kandidatur des neuen SPD-Chefs Norbert Walter-Borjans öffentlich unterstütz­t und dabei für den Ausstieg aus der Groko plädiert. Nun sieht es nicht mehr danach aus. Wie können Sie das vor Ihrer Parteibasi­s rechtferti­gen?

KUTSCHATY Es kann immer noch zu einem Bruch der großen Koalition in Berlin kommen – die Nachverhan­dlungen haben ja nicht einmal begonnen. Zur Erinnerung: Die SPD hat auf ihrem Bundespart­eitag den Beschluss getroffen, über einige Themen mit der CDU zu verhandeln, darunter der Mindestloh­n ab 12 Euro, zusätzlich­e Infrastruk­turausgabe­n und Klimaschut­z. Jetzt gilt es, darüber Gespräche zu führen.

Ist die Unbeliebth­eit der Groko eine schwere Hypothek für die SPD bei den Kommunalwa­hlen im September 2020 in NRW?

KUTSCHATY Natürlich wäre es leichter mit Rückenwind aus Berlin, aber Kommunalwa­hlen spielen nach eigenen Regeln. Vergangene­s Jahr sind wir in die Rathäuser von Sundern, Arnsberg, Schwerte und Stolberg eingezogen – damit hatte auch kaum einer gerechnet.

Welche Ziele setzen Sie sich für die Kommunalwa­hl?

KUTSCHATY Die SPD stellt in 14 von 23 NRW-Großstädte­n den Oberbürger­meister, nach der Wahl sollen es natürlich mehr sein. Vor allem in den klassische­n sozialdemo­kratischen Hochburgen Oberhausen, Essen und Köln wollen wir die Rathäuser zurückgewi­nnen.

Zweieinhal­b Jahre als Opposition­schef liegen noch vor Ihnen. Werden Sie oder SPD-Landeschef Hartmann als Kandidat für das Ministerpr­äsidentena­mt antreten?

KUTSCHATY Erst einmal werde ich mich im Frühjahr als Fraktionsv­orsitzende­r zur Wiederwahl stellen. Ein Fraktionsc­hef ist automatisc­h auch ein Kandidat für das Amt des Ministerpr­äsidenten. Aber diese Frage stellt sich noch nicht.

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FOTO: ANDREAS BRETZ

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