Rheinische Post - Geldern an Kevelaer
„Geht es der City gut, geht es der Stadt gut“
Der Präsident der Industrie- und Handelskammer spricht im großen Interview zum Start in das Jahr 2020 über seine Region Niederrhein.
Herr Landers, Sie sind Präsident der Industrie- und Handelskammer. Teilen Sie die Beobachtung, dass sowohl Industrie als auch Handel im digitalen und globalisierten Zeitalter schwächeln, während die Zunft der Handwerker keine Verliererin der Digitalisierung ist, weiter goldenen Boden hat?
BURKHARD LANDERS Wir haben derzeit eindeutig konjunkturelle Schwächen in der Industrie. Da stehen wir am Rande einer Rezession, bei den Dienstleitungen ebenso. Das geben auch unsere Zahlen so her. Der Konjunkturindex ist zum Sommer stark gesunken. Wem es allerdings immer noch gut geht, ist die Bauindustrie und überraschend auch der Einzelhandel. Die Binnennachfrage ist ungebrochen. Deshalb merken wir noch nichts von der schwächelnden Konjunktur. Sie ist beim Bürger noch nicht angekommen. Bei den großen Unternehmen werden aber die ersten Arbeitsplätze abgebaut.
Das Bedrohungsszenario Amazon, das viele Händler fürchten, greift in der Realität also noch gar nicht? LANDERS Das greift natürlich, der Einzelhandel hat schon ein riesiges Potenzial verloren, weil sich Amazon, das ein ganz anderes Geschäftsmodell vertritt, in den Markt gedrängt hat. Man kann den Euro nur einmal ausgeben. Aber viele Händler in den Innenstädten unserer Region haben Wege dagegen gefunden, haben ihr Sortiment durch Einkaufserlebnis und Veranstaltungen so erweitert, dass die Menschen wieder in die City kommen.
Haben Sie konkrete Beispiele aus den Städten ihrer Kammerregion Niederrhein?
LANDERS Die City in Duisburg zum Beispiel ist belebter, als sie dies noch vor fünf Jahren war. Das hat damit zu tun, dass da gezielt angesiedelt wurde. Nach der Entscheidung gegen ein Outlet-Center am Bahnhof kamen Unternehmen bewusst in die City. Auch Wesel ist, was den Einzelhandel angeht, eine gesunde Stadt. Da gibt es zwar immer mal Schließungen, es gibt Ein-Euro- und Telefonläden. Die verschwinden aber auch wieder. Ich glaube generell, dass die Menschen den Einzelhandel in der Innenstadt haben wollen, weil sie das Erlebnis des Einkaufs haben wollen. Die Bedrohung ist natürlich, dass der Kunde im Geschäft anprobiert, ein Buch probeliest und dann doch im Internet bestellt. Darauf muss der Einzelhandel eine Antwort finden. Ich glaube, dass das möglich ist. Die Innenstädte überleben mit einem guten Produktmix, mit Freizeitmöglichkeiten und Cafés. Dafür braucht es einen konzentrierten Innenstadtkern, nicht mehrere. Wenn es der City dann gut geht, dann geht es auch der Stadt gut.
In Ihrem IHK-Kammerbezirk hat keine Stadt den Weg gewählt, mit einem großen Einkaufszentrum raus aus der City, also den Weg von Oberhausen, zu gehen.
LANDERS Es haben fast alle Städte Einzelhandelskonzepte hingelegt, und diese Konzepte weisen alle eine Stärkung der City aus. Sie haben sich dagegen entschlossen, sich zu verzetteln. In Duisburg geht es auch ab und an um die Frage, ob einzelne Stadtteile noch ein Einkaufszentrum benötigen, ob es Ansiedlungen auf der grünen Wiese braucht. Bewährt hat sich das nach meiner Meinung nicht. Damit ziehen wir die Innenstädte leer, womit niemandem gedient ist. Eine Stadt wie Wesel geht also den richtigen Weg, wenn sie ein Einzelhandelskonzept aufstellt und davon dann nicht mehr abweicht.
Bei großen Warenhäusern wie Kaufhof und Real steht zu befürchten, dass das Ende eingeläutet ist.
LANDERS Die Zeit für ein allgemeines Kaufhaus ist vorbei. Die
Kaufhäuser, die überleben, haben intelligente
Shop-In-ShopSysteme. Da gibt es inhäusig kleinere Anbieter, die
Produkte in eigenen Shops anbieten, und man ist unter dem gemeinsamen Dach. Solche Konzepte sind von Erfolg gekrönt. Dazu muss die entsprechende Frequenz da sein. In Wesel ist diese Frequenz am Mathenakreuz da, sie ist an anderen Stellen eher zweifelhaft. Vieleicht könnte man in Wesel den Bereich zwischen Mathenakreuz und Berliner Tor noch ein wenig beleben durch einen neuen Frequenzbringer, aber grundsätzlich glaube ich, dass es neue Ideen braucht. Man möchte eher die kleinen Boutiquen.
Stimmt es, dass die Städte gesünder werden, je weiter es Richtung Niederlande geht. Ich denke an Kleve. LANDERS Kleve ist sicherlich ein Leuchtturm. Die Stadt hat einem hohen Anteil niederländischer Käufer. Diese Kaufkraft kann man als deutsche Stadt in Grenznähe erschließen, 30 oder 40 Kilometer hinter der Grenze eher nicht mehr. So weit, so banal. Wesel kann das nur noch eingeschränkt, eine Stadt wie Duisburg eher nicht. Deshalb ist Kleve, was den Einzelhandel in der Region angeht, in einer absoluten Ausnahmelage.
Kleve entwickelt sich rasant, insbesondere durch die Hochschule. Die Stadt ist ein absolutes Positivbeispiel für Entwicklung.
LANDERS Die Ansiedlung der Hochschule, eine Idee der Landesregierung Rüttgers, hat wirklich funktioniert. Die Idee, die Trauer wegen abwandernder Industrie, Stichworte BenQ und Nokia, hinter sich zu lassen, und an diese Stelle ein Zukunftsprodukt wie Bildung und Wissenschaft zu setzen, war goldrichtig. Das ist in Kamp-Lintfort aufgegangen, und das ist in Kleve aufgegangen. Wir merken, dass es den Menschen
drumherum dadurch besser geht. Es hat Einzelhandel herangezogen, weil Kaufkraftpotenzial hinzukam. Eine Stadt wie Kamp-Lintfort hat jetzt die Landesgartenschau, irgendwann kommt hoffentlich der Bahnanschluss. Generell hat aber die Idee, auf wegfallende Industrie nicht zwangsweise mit neuer Industrie zu reagieren, funktioniert.
Bildung ist wichtig, aber irgendwo muss Wertschöpfung beginnen. Der Niederrhein kann ja nicht reich werden, indem sich alle, um im Bild zu bleiben, gegenseitig unterrichten. Was ist ein wirtschaftliches Zukunftsmodell, wie sehen Sie den Niederrhein hier positioniert? LANDERS Wir sind auf einem guten Weg. Es gibt all das hier. Wir haben intelligente zukunftsweisende Unternehmen, wir haben Anlagenbauer, wir sind in der Chemie gut aufgestellt. Wir sind, wenn man in Richtung Kleve geht, bei landwirtschaftlichen Industrien stark. Der Handel ist prosperierend, denken Sie an Unternehmen wie Bofrost. Diese Unternehmen müssen sich aber auch ständig mit neuen Produkten neu aufstellen, dafür brauchen sie hervorragend ausgebildete Leute. Die Herausforderung ist, die Menschen, die wir hier ausbilden, auch hier zu halten. Das können wir mit attraktiven Städten und attraktiven Wohngebieten machen. Dafür müssen wir vernünftigen und bezahlbaren Wohnraum anbieten. Da können Städte wie Wesel und Duisburg punkten, das von seiner Nähe zu Düsseldorf profitiert. Es gibt neu entstehende Stadtteile in Duisburg, die stehen unter einem sehr guten Stern. Dann ist auf einmal die Anziehungskraft von Düsseldorf oder Köln deutlich schwächer. Wir leben gut am Niederrhein, und für die Besuche nach Düsseldorf nutzt man das Autobahnnetz oder den ÖPNV.
In Ihrer Wahrnehmung hat also der Niederrhein ein hohes Potenzial und wird manchmal unter Wert verkauft?
LANDERS Wir brauchen hier nicht so viel Unterstützung wie etwa das Ruhrgebiet. Dort gibt es Strukturschwächen durch den Ausstieg aus Kohlebergbau, den Wandel der Automobilindustrie plus zweite Energiewende aus der Kohleverstromung. Dazu die hohe Verschuldung der Städte und eine älter werdende Gesellschaft – dass dort die Unterstützung dringender ist, ist für mich klar. So ganz ohne Unterstützung kommt der Niederrhein aber auch nicht aus. Ich habe das Beispiel der Fachhochschulen Kleve und Kamp-Lintfort genannt. Unternehmen wie Altana sind nicht hier, weil sie irrtümlich von der Autobahn abgefahren sind, sondern weil sie sich bewusst für den Standort entschieden haben. Es hätte damals auch andere Möglichkeiten.
Haben Sie sich Ziele gesetzt für die nächste Amtszeit als IHK-Präsident?
LANDERS Ja, es gibt einige Themen, mit denen wir noch nicht fertig sind. Das ist zunächst die Infrastruktur. Da sind wir in den letzten Jahren deutlich weitergekommen. Das dicke Brett, das wir bohren müssen, ist Planbeschleunigung. Die A40-Brücke ist ein Beispiel, dass es schnell gehen kann, wenn es alle wollen. Diesen großen Kraftakt müsste man eigentlich ständig wiederholen, damit es wirklich weitergeht. Das Thema meiner nächsten Amtszeit wird sein, den Klimawandel und den damit verbundenen Strukturwandel hier in unserer Region noch stärker zu begleiten. Da findet die regionale Wirtschaft noch nicht genug Gehör. Da kommen Verwerfungen auf die Stahlindustrie, die Verkehrsindustrie und Logistik zu, die fatal sein können. Wir müssen sehr vorsichtig sein, dass wir vor lauter Panik, vor lauter Notstandsgerede, unseren wirtschaftlichen Ast nicht an-, wenn nicht sogar absägen. Ich habe mir vorgenommen, hier die Interessen der regionalen Wirtschaft weiter nach vorne zu stellen.
Trifft der Klimawandel die regionale Wirtschaft schon direkt?
LANDERS Ja, es gibt unmittelbare Folgen, es trifft sie mit voller Wucht. Europas größter Stahlstandort ist Duisburg. Wenn es Duisburg schlecht geht, wird es uns nicht lange so gut weitergehen. Wir sind auch Logistikstandort an der Grenze zu den Niederlanden, zu Belgien und dem Ruhrgebiet. Wir werden erleben, was es bedeutet, wenn wir noch mehr Transitland werden, weil die Logistikunternehmen hier wirtschaftlich nicht mehr bestehen können. Wenn die Kosten des Verkehrs über die Benzinpreise, über die CO2-Abgaben steigen, was machen wir dann mit dem osteuropäischen Spediteur, der kurz vor der Grenze volltankt und erst nach der Durchfahrt erneut hinter der Grenze wieder volltankt? Wir importieren die CO2-Belastung, und der deutsche Spediteur kann sich wirtschaftlich nicht behaupten. Das kann zu Verwerfungen führen. Ohne Zweifel: Wir müssen beim Klimawandel zusätzliche Anstrengungen unternehmen. Aber wir dürfen uns nicht verzetteln und die Wirtschaft dabei abwürgen.
Der Niederrhein ist, was Bahnverbindungen angeht, nicht gesegnet. LANDERS Es braucht den Ausbau von Betuwelinie und einen Ausbau des RRX-Angebots. Wir lassen uns zu viel Zeit dafür. Die Frachten auf ein eigenes Gleis zu stellen, wird der Königsweg sein. Wenn wir das nicht haben, dann muss sich der Verkehr die gemeinsamen Gleise teilen. Wir müssen da möglichst schnell etwas bewegen. Dass das nicht für jeden Anrainer die pure Freude ist, kann ich nachvollziehen. Man wird auch kompensieren müssen. Aber wir können nicht eine solche Schienenstrecke, die die gesamte Region betrifft, an einzelnen Brennpunkten scheitern lassen.
…sagt jemand, der bald mit der Südumgehung an Wesel vorbei direkt eine große Straße vor der Nase hat. Ihr Unternehmen liegt direkt an dieser neuen Straße.
LANDERS ...sagt jemand, der die Umgehungsstraße quasi über seinen eigenen Parkplatz führt. Ich persönlich könnte ohne diese Umgehungsstraße leben. Wesel nicht. Wesel braucht dringend die Südumgehung als Entlastung für die Innenstadt. Deshalb war ich immer dafür, werde immer dafür sein. Und wenn die dann vor meiner Haustür vorbeiführt, dann darf ich nicht laut protestieren. Man muss auch mal ein Ei kaputt machen, um ein Omelett zu machen.