Rheinische Post - Geldern an Kevelaer
Ein Fan muss naiv sein können
MEINUNG Durch die sozialen Medien scheint der Fußballfan so nah dran an seinen Idolen wie nie. Doch er muss einen Spagat hinbekommen, will er sich das Fansein bewahren: das Nebeneinander von romantischer Distanz und kritischem Interesse.
Das deutsche Fußball-Gewissen wohnt in Freiburg. Von Zeit zu Zeit meldet es sich in Person von Christian Streich mahnend zu Wort, und Fußball-Deutschland hört gebannt hin. In dieser Woche befand der Trainer des Sportclubs mal wieder Grundsätzliches. Darunter macht er es selten: „Der Fußball ist längst entromantisiert“, sagte Streich in einem „Spiegel“-Interview. Wums, das saß. Weil es einen Aspekt tangierte, der das heutige Milliardengeschäft Fußball im Innersten berührt. Die Frage: Wie viel Romantik braucht der Fußball, um als Unterhaltungsgeschäft zu funktionieren? Und wie viel romantische Schwärmerei kann, ja muss sich ein Fan in dieser omnipräsenten Medienwelt bewahren, um Fan bleiben zu können?
Auch wenn es paradox klingen mag in einer Zeit, in der der Fußballfan hierzulande seinen Stars aus Bundesliga und Nationalmannschaft so nah scheint wie nie, so lautet die Anwtort: Es braucht ein gewisses Maß an Distanz, eine Art Notration Naivität, um sein eigenes Fansein nicht zu gefährden. 2020 mehr denn je. Der Blick hinter die Kulissen bietet mittels sozialer Medien eine vermeintliche Teilhabe am Leben der Idole, von der „Schlachtenbummler“früherer Tage nicht mal zu träumen wagen durften. Doch das Heben des Vorhangs bietet eben auch Gefahren: Finde ich es wirklich cool, dass mein Lieblingsspieler bei Instagram ein Video von sich postet, während er am Steuer sitzt? Was, wenn mein Idol, das ich per „Meet and Greet“kennenlernen darf, gar nicht Schwiegermutters
Liebling ist, sondern ein kurz angebundener Miesepeter? Und wie denke ich darüber, wenn ein Star-Trainer einen armen Übersetzer vor laufender Kamera abkanzelt?
Der Profi, dem man aus der Distanz der Zuschauerränge zujubelt, wird im Netz zum Superstar erhöht. Aus dieser Fallhöhe sollte er sich aber umso weniger einen Fehltritt erlauben. „Der Charakter von Fußballprofis als Social-Media-Stars, dieser Personenhype wird sich verfestigen“, sagte der langjährige Bundesligaprofi Stefan Reinartz (Leverkusen, Frankfurt) unserer Redaktion im vergangenen Jahr. Und er nahm den Fans die Illusion, dass sie am Ende wirklich so nah dran sind, wie ihnen ihre Timeline vorgaukeln möchte. „Man kann es schaffen, über die sozialen Medien den Eindruck zu erwecken, unheimlich viel preiszugeben, ohne auch nur irgendetwas preiszugeben. Das ist ja alles nur eine Scheinnähe. Wenn Spieler ein Foto von sich beim Mittagessen machen und posten, sind ja die Fans nur scheinbar ganz nah dran“, sagte Reinartz.
Immanuel Kant würde sich wahrscheinlich im Grab umdrehen und die Errungenschaften der Aufklärung in Gefahr sehen, aber heute gilt als Fan mehr denn je „Selig sind die Unwissenden“. Die Gier nach immer neuem Futter für Herz und Handy, die Jagd nach dem nächsten Selfie, um dem Kumpel den Rekord an „Likes“abzujagen, sie macht aus dem Fan einen einfordernden Konsumenten. Natürlich geht es im Fußball um Rechte von Fans, um Ticketpreise, um Korruption, um die Frage, was mit personenbezogenen Daten nach dem Ticketkauf passiert und welche Kontrollen am Stadioneingang zulässig
sind. Überall da muss der Fan – Kant würde aufatmen – zwingend mündiger Bürger sein. Aber am Ende gehen doch wahrscheinlich 99 Prozent der Zuschauer ins Stadion, um sich emotional berühren und nicht beim Siegtreffer in der Nachspielzeit von der eigenen Ratio leiten zu lassen.
Ein Fan muss diesen Spagat hinbekommen, will er sich das Fansein bewahren: das Nebeneinander von naiver Romantik und kritischem Interesse. Wer kann sich ernsthaft für American Football begeistern, wenn er weiß, dass dieser Sport bei vielen Profis Gehirnschädigungen hervorruft? Wer kann Sportlern zujubeln, deren Sportart nachgewiesenermaßen dopingverseucht ist? Nur der, der willens und fähig ist, sich für einen gewissen Zeitraum selbst zu belügen. Innere Distanz ist Bedingung fürs Fansein. Das kann man gut finden oder nicht. Nur es zu leugnen, wird schwer.
Und was sagt das deutsche Fußballgewissen? Empfiehlt es am Ende dem Fan gar eine Abkehr vom entromantisierten Fußball? Nein, Christian Streich weiß einen Weg, wie wir ihm treu bleiben können. „Das Spiel an sich hat überlebt. Es ist einfach zu groß. Ich sehe es bei mir selbst. Dieser Sport berührt mich sehr, seitdem ich ein kleiner Bub war. Ich schaue auch heute einfach immer noch gerne Fußball“, sagte er im „Spiegel“.
„Man kann es schaffen, den Eindruck zu erwecken, unheimlich viel preiszugeben“
Stefan Reinartz Ex-Bundesligaprofi