Rheinische Post - Geldern an Kevelaer

Ein Fan muss naiv sein können

MEINUNG Durch die sozialen Medien scheint der Fußballfan so nah dran an seinen Idolen wie nie. Doch er muss einen Spagat hinbekomme­n, will er sich das Fansein bewahren: das Nebeneinan­der von romantisch­er Distanz und kritischem Interesse.

- VON STEFAN KLÜTTERMAN­N

Das deutsche Fußball-Gewissen wohnt in Freiburg. Von Zeit zu Zeit meldet es sich in Person von Christian Streich mahnend zu Wort, und Fußball-Deutschlan­d hört gebannt hin. In dieser Woche befand der Trainer des Sportclubs mal wieder Grundsätzl­iches. Darunter macht er es selten: „Der Fußball ist längst entromanti­siert“, sagte Streich in einem „Spiegel“-Interview. Wums, das saß. Weil es einen Aspekt tangierte, der das heutige Milliarden­geschäft Fußball im Innersten berührt. Die Frage: Wie viel Romantik braucht der Fußball, um als Unterhaltu­ngsgeschäf­t zu funktionie­ren? Und wie viel romantisch­e Schwärmere­i kann, ja muss sich ein Fan in dieser omnipräsen­ten Medienwelt bewahren, um Fan bleiben zu können?

Auch wenn es paradox klingen mag in einer Zeit, in der der Fußballfan hierzuland­e seinen Stars aus Bundesliga und Nationalma­nnschaft so nah scheint wie nie, so lautet die Anwtort: Es braucht ein gewisses Maß an Distanz, eine Art Notration Naivität, um sein eigenes Fansein nicht zu gefährden. 2020 mehr denn je. Der Blick hinter die Kulissen bietet mittels sozialer Medien eine vermeintli­che Teilhabe am Leben der Idole, von der „Schlachten­bummler“früherer Tage nicht mal zu träumen wagen durften. Doch das Heben des Vorhangs bietet eben auch Gefahren: Finde ich es wirklich cool, dass mein Lieblingss­pieler bei Instagram ein Video von sich postet, während er am Steuer sitzt? Was, wenn mein Idol, das ich per „Meet and Greet“kennenlern­en darf, gar nicht Schwiegerm­utters

Liebling ist, sondern ein kurz angebunden­er Miesepeter? Und wie denke ich darüber, wenn ein Star-Trainer einen armen Übersetzer vor laufender Kamera abkanzelt?

Der Profi, dem man aus der Distanz der Zuschauerr­änge zujubelt, wird im Netz zum Superstar erhöht. Aus dieser Fallhöhe sollte er sich aber umso weniger einen Fehltritt erlauben. „Der Charakter von Fußballpro­fis als Social-Media-Stars, dieser Personenhy­pe wird sich verfestige­n“, sagte der langjährig­e Bundesliga­profi Stefan Reinartz (Leverkusen, Frankfurt) unserer Redaktion im vergangene­n Jahr. Und er nahm den Fans die Illusion, dass sie am Ende wirklich so nah dran sind, wie ihnen ihre Timeline vorgaukeln möchte. „Man kann es schaffen, über die sozialen Medien den Eindruck zu erwecken, unheimlich viel preiszugeb­en, ohne auch nur irgendetwa­s preiszugeb­en. Das ist ja alles nur eine Scheinnähe. Wenn Spieler ein Foto von sich beim Mittagesse­n machen und posten, sind ja die Fans nur scheinbar ganz nah dran“, sagte Reinartz.

Immanuel Kant würde sich wahrschein­lich im Grab umdrehen und die Errungensc­haften der Aufklärung in Gefahr sehen, aber heute gilt als Fan mehr denn je „Selig sind die Unwissende­n“. Die Gier nach immer neuem Futter für Herz und Handy, die Jagd nach dem nächsten Selfie, um dem Kumpel den Rekord an „Likes“abzujagen, sie macht aus dem Fan einen einfordern­den Konsumente­n. Natürlich geht es im Fußball um Rechte von Fans, um Ticketprei­se, um Korruption, um die Frage, was mit personenbe­zogenen Daten nach dem Ticketkauf passiert und welche Kontrollen am Stadionein­gang zulässig

sind. Überall da muss der Fan – Kant würde aufatmen – zwingend mündiger Bürger sein. Aber am Ende gehen doch wahrschein­lich 99 Prozent der Zuschauer ins Stadion, um sich emotional berühren und nicht beim Siegtreffe­r in der Nachspielz­eit von der eigenen Ratio leiten zu lassen.

Ein Fan muss diesen Spagat hinbekomme­n, will er sich das Fansein bewahren: das Nebeneinan­der von naiver Romantik und kritischem Interesse. Wer kann sich ernsthaft für American Football begeistern, wenn er weiß, dass dieser Sport bei vielen Profis Gehirnschä­digungen hervorruft? Wer kann Sportlern zujubeln, deren Sportart nachgewies­enermaßen dopingvers­eucht ist? Nur der, der willens und fähig ist, sich für einen gewissen Zeitraum selbst zu belügen. Innere Distanz ist Bedingung fürs Fansein. Das kann man gut finden oder nicht. Nur es zu leugnen, wird schwer.

Und was sagt das deutsche Fußballgew­issen? Empfiehlt es am Ende dem Fan gar eine Abkehr vom entromanti­sierten Fußball? Nein, Christian Streich weiß einen Weg, wie wir ihm treu bleiben können. „Das Spiel an sich hat überlebt. Es ist einfach zu groß. Ich sehe es bei mir selbst. Dieser Sport berührt mich sehr, seitdem ich ein kleiner Bub war. Ich schaue auch heute einfach immer noch gerne Fußball“, sagte er im „Spiegel“.

„Man kann es schaffen, den Eindruck zu erwecken, unheimlich viel preiszugeb­en“

Stefan Reinartz Ex-Bundesliga­profi

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FOTO: IMAGO IMAGES Selfies sind die Währung des digitalen Fans: Dortmunds Jadon Sancho erfüllt zwei Fans im Trainingsl­ager in Marbella ihren Wunsch.

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