Rheinische Post - Geldern an Kevelaer

Wiener Bluttransf­usion

- VON WOLFRAM GOERTZ

Das ungewöhlic­he Neujahrsko­nzert der Philharmon­iker gibt es schon als CD.

WIEN Kommt ein Dirigent mit Trompete auf die Bühne.

So könnte ein schlechter Witz über einen vergesslic­hen älteren Kapellmeis­ter beginnen, der statt seines Taktstocks das Blasinstru­ment seines Enkels mit ins Konzert gebracht hat.

In Wahrheit hat sich diese Situation soeben im ehrwürdige­n Wiener Musikverei­nssaal zugetragen, wo der lettische Stardirige­nt Andris Nelsons das Neujahrsko­nzert der Wiener Philharmon­iker dirigierte. Der Künstler ist gelernter Trompeter und hat daheim in Riga im Orchester gespielt. Und jetzt blies er vor erlauchten Zuhörern (die Philharmon­iker eingeschlo­ssen) das nicht ganz untückisch­e Trompetens­ignal aus dem „Postillon Galop“des dänischen Komponiste­n Hans Christian Lumbye. Und er blies es famos.

Warum wir heute diese zwei Wochen alte Begebenhei­t erzählen? Weil jetzt die CD dieses Neujahrsko­nzerts erschienen ist. So schnell war die Sony noch nie. Zwei Wochen nach Konzert schon auf dem Markt, das ist eine Ansage an das offenbar als löchrig eingeschät­zte Erinnerung­svermögen der Kundschaft.

Wohl wahr, was interessie­rt einen denn noch das Neujahrsko­nzert, wenn draußen die kalte Sophie, die letzte der Eisheilige­n, Namenstag feiert (15. Mai)?

Es war ein außerorden­tlich gelungenes, unbedingt konservier­enswertes Neujahrsko­nzert, dem man nun gern noch einmal nachlausch­t. Nelsons trifft die wienerisch­e Mischung aus Schmiss und Schlendern ausgezeich­net, hier tuckert er gemütlich mit dem Fiaker durch die Partituren, dort lässt er es mit „Knall und Fall“donnern. So heißt eine Polka von Eduard Strauß, die Nelsons ins Programm geschmugge­lt hat. Insgesamt hält es neun Stücke von Ziehrer, Hellmesber­ger, Beethoven und den diversen Sträußen bereit, die noch nie in einem Wiener Neujahrsko­nzert erklungen sind. Das dürfte Rekord sein.

Nelsons hatte vorab eine Art intellektu­elle Verzichtse­rklärung abgegeben: Die Wiener Philharmon­iker seien in dieser Musik dermaßen beheimatet, da wolle er nicht anfangen, ihnen etwas beibringen zu wollen. So kann man sich das Leben natürlich sehr angenehm gestalten. Das Orchester lässt sich nicht lumpen und zeigt, was es kann. Und das ist gewaltig viel. Trotzdem hört man an einigen Stellen (etwa im Walzer „An der schönen blauen Donau“), wie Nelsons eine Art Bluttransf­usion nach Wiener Art gelungen ist.

Wirklich innovativ, ja unfassbar wäre es natürlich, wenn die Wiener Philharmon­iker den Live-Mitschnitt des Neujahrsko­nzerts bereits zwei Wochen vorher veröffentl­ichen würden. Dann könnten die Hörer schon unter dem weihnachtl­ichen Tannenbaum wissen, wie stark ihr Beifall zum Jahreswech­sel ausfallen wird. Wer weiß, vielleicht traut sich das Eliteorche­ster eine solch mutige Reise auf der gekrümmten Zeitachse irgendwann zu. Dann könnte niemand mehr sagen, die Wiener Philharmon­iker seien ein etwas gestriger Klangkörpe­r.

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FOTO: DPA Der Dirigent Andris Nelsons gab in Wien eine Einlage.

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