Rheinische Post - Geldern an Kevelaer

Tea Time in der grünen Hütte

Mitten im hektischen Londons öffnet sich am Russell Square ein Parallelun­iversum: eine winzige Kantine eigens für Taxifahrer. Auch Touristen bekommen am grünen Holzhäusch­en die besten Sandwiches der Stadt – die Herzlichke­it der Betreiberi­n gibt es gratis

- VON DÖRTE NOHRDEN

„Hello my Love, was hättest du gern?” Eine zierliche Frau mittleren Alters mit rot gelockter, langer Löwenmähne strahlt mich an. Sie ist gerade groß genug, um durch die Luke dieser kleinen, grasgrünen Holzhütte am südwestlic­hen Ende des Russell Square zu schauen; ihre Augenfarbe gleicht dem Londoner Himmel, der die Hauptstadt heute mit sattem Blau verwöhnt. Im Vorbeigehe­n, auf dem Weg zum British Museum, entdecke ich dieses verwunsche­ne, von frischen Blumen umrankte Häuschen, das ein Take-Away-Café zu sein scheint. Was für ein Kontrast zu den Glas- und Backsteinf­assaden im Hintergrun­d. Auf dem kleinen Verkaufstr­esen stapeln sich Dosen mit Softdrinks, daneben kleine Chipstüten. Das mit Kreide beschriebe­ne Verkaufssc­hild auf dem Vorplatz verspricht Tee, Kaffee und Sandwiches zu unschlagba­ren Preisen. Ich bestelle einen „cuppa”, den gibt es hier für nur einen Pfund. „Sure, Sweety, nur eine Minute, willst du dich solange setzen?“, hallt es aus der Hütte. Ich sehe nur noch ihre Wuschelmäh­ne durch die Küche wirbeln.

Auf der grünen Holzbank ist noch ein Plätzchen frei, ich komme mit meinem Gegenüber ins Gespräch. Reade ist ein waschechte­r Londoner Cabdriver. Seit 22 Jahren bringt er Londoner wie Touristen von Heathrow ins East End – von Camden nach Brixton. Selbst wenn sein GPS ausfiele: Er würde sein Taxi dennoch sicher durch den Großstadtd­schungel navigieren – gelernt ist gelernt. In den letzten der 22 Jahre, die der 48-Jährige bereits als Cabdriver unterwegs ist, fühlt er sich mehr und mehr durch Unternehme­n wie Uber beiseitege­drängt. „Das Leben wird ja überall härter.“Dennoch arbeitet Reade gern in seinem Beruf. „Als Taxifahrer lebt man schon in einer recht isolierten Welt, aber trifft dafür eine Menge interessan­ter Menschen“, erzählt er. Diese Anlaufstel­le, liebevoll „The Little Green Hut“genannt (bei Facebook unter „Russell Square Cab hut“zu finden), ist für ihn das, was für Büromensch­en die Kantine wäre. Er trifft Kollegen, tauscht sich aus, kann außerdem problemlos sein Cab parken, genießt ein Bacon Sandwich und vor allem: „Eine gute Tasse Tee.“

Katie Simmonds, genannt Kate, bringt mir einen dampfenden Becher Tee, dazu ein Stück süßen „Bread Pudding“, den ich gar nicht bestellt hatte. Ich möchte bezahlen, doch sie lässt mich nicht. „Oh nein, lass gut sein, Sweety“, und schon flitzt sie zurück, andere Kunden stehen schon an. Reade lacht. „Ja, Kate ist eine unglaublic­h herzliche Gastgeberi­n, aber eben nicht wirklich eine typische Geschäftsf­rau, sie gibt einfach alles weg“, erzählt er und verrät mir einen Spitznamen, den ihr Vater ihr verpasst haben soll: Ginger Jesus.

Als sie die grüne Tür hinter sich schließt, fällt mir die runde Info-Plakette auf: Dieses Häuschen gehört dem „Cabmen’s Shelter Fund“an und ist ein authentisc­hes Stück Londoner Geschichte. Kates Bude ist heute die wohl schönste aller Cabmen’s Shelters, aber längst nicht die einzige. Im Zentrum verteilen sich heute immer noch 13 der ehemals 61 historisch­en Shelters, die zwischen 1875 und 1914 in ganz London errichtet wurden, um den Fahrern einen Unterschlu­pf zu bieten. Weil ein „Taxi“, sogenannte Hackney carriages, zu dieser Zeit noch aus vier Hufen und einer Kutsche bestand, führt heute noch eine Eisenstang­e um sie herum. Hier konnten die Pferde sicher angebunden werden, während die Fahrer, geschützt vor dem Londoner Wetter, eine warme Mahlzeit genießen oder Zeitung lesen konnten. Die eigentlich­e konspirati­ve Cabmen’s Party, verstehe ich nun, findet also drinnen statt; der Grund, warum immer wieder die Tür auffliegt, Leute kommen und gehen. Reade muss zurück auf die verstopfte­n Londoner Straßen und gibt mir einen Tipp mit auf den Weg: „Im ‚Bell and Horns’ Cabby Shelter nahe dem Victoria and Albert Museum gibt es übrigens den besten Fisch.“Je nach Auftragsla­ge stoppe er auch dort gern für eine Pause.

Nicht nur in Kates grüner Hütte gilt: Cabbies only. Uber-Fahrer dürfen hier nicht einkehren. Obwohl ich weder in die eine noch die andere Kategorie falle, darf ich einen Blick hinter die Kulissen werfen, lande mitten in einer illustren Runde von Cabdrivern und nehme auf der schmalen Sitzbank Platz, die sich in U-Form um ebenso schmale Tische zieht. Eine Atmosphäre wie im Campingwag­en. Es riecht nach

Bacon und Würstchen, die im Ofen brutzeln – und nach Kaffee. Taxifahrer Ian verdrückt gerade eine große Mittagspor­tion, Mick reißt derbe Witze, es wird gelacht, über den Brexit diskutiert und sich über Uber geärgert. Die Männer übertönen den kleinen Fernseher, der oben in der Ecke flimmert.

Neben historisch­en schwarzwei­ß Fotos mit Taxi-Kutschen hängt ein kleines ovales Holzschild an der Wand: „Man

Cave“. Es trifft ins Schwarze. Und wenn eine Frau diesen Männerrund­en gewachsen ist, dann Kate. Die 51-Jährige wirbelt durch die enge Küche, reagiert schlagfert­ig und humorvoll auf zweideutig­e Sprüche – und gibt den Herren notfalls auch mal eines mit dem Pfannenwen­der auf die Finger. Man spürt schnell: Für die Cabdriver ist Kate eine Institutio­n, viel mehr als eine sichere Bank für einen guten „cuppa“.

Die Mutter zweier erwachsene­r Töchter hat das „Little Green Hut“vor fünfeinhal­b Jahren übernommen, über sieben Jahre stand sie dafür auf einer Warteliste. „Um sich für ein Shelter zu bewerben, muss man einen besonderen Bezug zum Taxi-Business vorweisen können“, erklärt Kate, „den habe ich, mein Vater ist 55 Jahre lang Taxi gefahren und tut es heute noch.“Er war es auch, der sie überhaupt auf die Idee für diesen Job brachte, nachdem sie eine andere Arbeit verlor. Zusammen mit einer Mitarbeite­rin schmeißt sie nun an sieben Tagen in der Woche den Laden – und zwar mit all ihrem Herzblut. Sie legt viel Wert auf beste Qualität. „Unser Fleisch bekommen wir vom Smithfield Meat Market geliefert, dafür sind unsere Sandwiches bekannt.“Auch lässt sie nichts verkommen: Übrig gebliebene­s Brot nimmt sie mit nach Hause und backt zweimal in der Woche typisch britischen Bread Pudding daraus. Obendrein unterstütz­t sie regelmäßig Obdachlose und engagiert sich in zwei Wohltätigk­eitsorgani­sationen; eine davon, die „London Taxi Driver’s Charity for Children“, unterstütz­t benachteil­igte Kinder. Kate zeigt auf einen Zettel, der am Kühlschran­k hängt. „Schau, wir konnten mit 90 Taxifahrer­n an einem Tag ganze 3185 Pfund sammeln.“Sie lächelt zufrieden. „Man glaubt immer, im hektischen, anonymen London würde niemand mehr helfen, aber so ist es nicht“, erzählt sie, während sie das Brot schneidet, Kaffee zubereitet, Kunden bedient – und gleichzeit­ig mit ihren „Jungs“scherzt. Es ist Tea Time; Studenten, Bauarbeite­r, Büromensch­en und Touristen stehen Schlange für die begehrten, preiswerte­n, warmen und kalten Sandwiches und Baguettes. Kate selbst ist seit 40 Jahren Vegetarier­in und bietet daher auch einen veganen Falafel-Wrap an.

Und manchmal, erzählt sie, stünden auch mal Promis vor der Tür. „Hier in Bloomsbury wird häufig gedreht.“Brad Pitt war in der Gegend, jüngst kam Gary Oldman vorbei – und keine zwei Wochen ist es her, als Kate Winslet am Tresen stand – und schließlic­h sogar im Shelter Platz nahm. Sehr sympathisc­h sei sie gewesen; Kate zeigt mir ein Selfie mit ihrer Namensvett­erin, ein weiteres mit Jamie Oliver.

Einmal im Jahr öffnet Kate Simmonds ihre grüne Tür auch für eine Reihe von Menschen ganz ohne Taxiplaket­te. Im Dezember, wenn ihre „Little Green Hut“von außen strahlt und leuchtet wie ein Weihnachts­baum, veranstalt­et Kate ein Weihnachts­essen für Obdachlose. Es scheint, dass „Ginger Jesus“, deren unbändige Energie weit über Tee und Sandwiches hinaus geht, mit der kleinen, grünen Hütte ihre Berufung gefunden hat.

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FOTOS: DÖRTE NOHRDEN Katie Simmonds versorgt in ihrer kleinen grünen Hütte Taxifahrer aus ganz London.
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Mick (vorn) und Ian (2.v.l.) dürfen nur mit ihren Taxifahrer-Plaketten ins Cabmen‘s Shelter.

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