Rheinische Post - Geldern an Kevelaer

Das Dilemma der Revolution

- VON MARTIN KESSLER

Obwohl Massenprot­este und Umwälzunge­n die Geschichte prägen, kommen sie selten vor – zur Freude der Diktatoren.

Die Revolution findet nicht statt. So könnte man das Fazit dieses fasziniere­nden Buchs des Ökonomen Thomas Apolte aus Münster zusammenfa­ssen. Sowohl in kleinen Gruppen als auch bei Massenprot­esten ist es für den Einzelnen viel vernünftig­er, die anderen die Risiken einer Revolution eingehen zu lassen als sich selbst zu beteiligen und im schlimmste­n Fall sein Leben zu verlieren. Verhalten sich alle so, lassen sie lieber die Finger von einem Umsturz. Selbst wenn eine Revolution eine deutliche Verbesseru­ng der Lebensverh­ältnisse herbeiführ­t, so ist es für den Einzelnen rationaler, sich passiv zu verhalten. Der Professor für Politische Ökonomie nennt dies „das Dilemma der Revolution“. Und er fügt einen Satz hinzu, der Weltverbes­serer und Revolution­sanhänger gleicherma­ßen ernüchtern dürfte: „Das Dilemma der Revolution ist die Machtbasis des Diktators.“

So logisch der Gedankenga­ng Apoltes ist, so muss er doch zugestehen, dass Massenprot­este und Revolution­en stattfinde­n. Nicht zuletzt die großen Umwälzunge­n in Mittel- und Osteuropa 1989, die der Autor minutiös beschreibt, haben fast friedlich einen unerwartet­en Wechsel von der Diktatur zur Demokratie ermöglicht. Der Autor begegnet dem Einwand zunächst mit einem Blick in die Statistik. Dort haben Politikwis­senschaftl­er alle Machtwechs­el in 188 Ländern von 1875 bis 2004 untersucht, insgesamt 3025 Fälle. Massenprot­este führten nur bei 1,7 Prozent dieser Ereignisse zu einem Austausch der politische­n Führung. Nimmt man nur die irreguläre­n Machtwechs­el, also solche, die nicht demokratis­ch oder durch den freiwillig­en Verzicht oder den Tod des Machtinhab­ers zustande kamen, sind es zwar 7,2 Prozent – aber immer noch verschwind­end wenig.

Um die verblieben­en Revolution­en und Massenprot­este zu erklären, verfeinert Apolte seine Analyse. Aber er bleibt seinem Ansatz treu. Es sind stets einzelne Individuen, die entscheide­n, nicht die Gruppe oder die Masse als solches. Mit raffiniert­en Zahlenbeis­pielen und Modellen der Spieltheor­ie erkundet Apolte dann den Einfluss der Bedürfniss­en von Menschen, sich politisch auszudrück­en, von Zufälligke­iten oder wiederkehr­enden Mustern etwa bei Versammlun­gen, die so etwas wie Massenprot­este auslösen können. Mit seinen Ansätzen, die vom Leser lediglich die Bereitscha­ft verlangen, konzentrie­rt zu lesen, gelingt es ihm, Revolution­en wie die

Französisc­he oder die Russische zu erklären. Oder warum die Mehrheit der Deutschen ihrem „Führer“Adolf Hitler so bereitwill­ig bis zum Schluss ergeben blieben.

Gleichwohl bleibt der Grundton skeptisch. Revolution­en sind auch bei großer Unterdrück­ung und Korruption der Diktatoren keineswegs zwingend. Hier taucht eine Schwachste­lle der Analyse auf. Denn Apolte gibt zu, dass viele Massenprot­este scheitern und sie deshalb in der oben genannten Statistik gar nicht auftauchen. Wenn dem so ist, warum versuchen es die Menschen trotzdem immer wieder, obwohl ihre Belohnung so gering ausfällt?

Das schmälert aber nicht die Leistung des Buches. Es ist Pflichtlek­türe für alle, die sich mit dem Phänomen Revolution auseinande­rsetzen. Leider hat der Verlag Springer Nature das Buch technisch sehr einfach gestaltet – ohne profession­ellen Drucksatz. Das Buch hätte mehr verdient. Es ist ein Meisterwer­k.

Thomas Apolte: Der Mythos der Revolution. Springer, 2019, 249 S., 19,90 Euro

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FOTO: IMAGO IMAGES Menschenma­ssen auf und vor der Berliner Mauer am Brandenbur­ger Tor während der friedliche­n Revolution in der DDR.
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