Rheinische Post - Geldern an Kevelaer
GRETA GERWIG
Die US-Amerikanerin wurde nicht für den Regie-Oscar nominiert. Hat der Preis ein Frauen-Problem?
Die Nominierungen für die Preise 2020 zeugen von Blindheit gegenüber der Gegenwart. Das kanonische Prinzip hat sich überlebt.
LOS ANGELES Viele Menschen haben kaum mehr Vertrauen in die Academy, die die Oscars vergibt, sie erkennen die Autorität ihrer Mitglieder nicht länger an, und man kann das gut verstehen. Es ist nämlich schwierig zu glauben, dass keine Frau im Jahr 2019 herausragende Leistungen im Regiestuhl gebracht haben soll. Das indes gibt die rein männliche Liste der Nominierungen für den Regie-Oscar zu verstehen. Es ist ebenfalls schwierig zu glauben, dass nur eine schwarze Person preiswürdige Schauspiel-Leistungen gezeigt haben soll, nämlich Cynthia Erivo in „Harriet“. Auch dass kaum nennenswerte Filme entstanden sein sollen, die von der Gegenwart erzählen, mag man nicht wahrhaben. Die Liste der für den besten Film nominierten Titel drückt das jedoch aus: Nur zwei der dort verzeichneten neun Produktionen sind im Heute angesiedelt, „Marriage Story“und „Parasite“.
Vor vier Jahren hatte Hollywood die Hoffnung geschürt, dass sich bei der Vergabe der Oscars etwas ändern würde. Damals gab es einen Aufschrei, der sich unter dem Stichwort „Oscars so white“Bahn brach. Mangelnde Diversität wurde beklagt, und die Vorwürfe waren begründet. Deshalb kündigte die Academy an, das Verhältnis von Frauen und Männern auszugleichen und das von weißen Mitgliedern und denen anderer Hautfarbe ebenfalls. Gelungen ist das nicht. Heute sieht die Academy so aus: 6000 Mitglieder, 68 Prozent männlich, 84 Prozent weiß. Entsprechend liest sich nun die Liste der Filme mit den meisten Nominierungen: „Joker“(11), „1917“(10), „Once Upon A Time In Hollywood“(10), „The Irishman“(10).
Und es sind ja nicht nur die Oscars. Das kanonische Prinzip ist in der Krise. Das belegt etwa auch der Ansehensverlust des Literaturnobelpreises. Der Oscar und der Nobelpreis sollen aus der Produktion der Gegenwart jene Titel und Künstler herauspicken, die in einer bestimmten Zeit entstanden sind, aber doch über sie hinausweisen. Sie wirken damit kanon-bildend, das heißt, sie entscheiden über die Liste von Werken und Namen, die als das Fundament der Kultur gelten.
Die Leute wollen sich aber nicht mehr vorschreiben lassen, was gut ist – von einem elitären Zirkel zumal. Das Nobelpreis-Komitee war zudem abgelenkt durch Klüngelei und erschüttert von einem Me-Too-Skandal. Und wie soll man Respekt vor einer Entscheidung haben, wenn sie ohne Sensibilität für die Diskurse ihrer Zeit getroffen werden?
Die Academy hat die diesjährigen Oscar-Nominierungen mit dem Hinweis begleitet, mit 62 nominierten Frauen gebe es so viele weibliche Kandidaten wie nie zuvor. Das mag sein. Von Gleichberechtigung kann man jedoch erst dann reden, wenn Frauen auch bei den Spitzenpreisen nominiert werden, das heißt bei der Regie. Das gab es in der Geschichte der Oscars erst fünf Mal. In diesem Jahr hätte sich Greta Gerwig angeboten, deren Film „Little Women“immerhin als bester Film sowie in fünf weiteren Kategorien zur Wahl steht. Man hätte auch Lulu Wang bedenken können, die Regisseurin von „The Farewell“.
Die Oscar-Gala wird im Februar zum zweiten Mal ohne Gastgeber stattfinden, man findet einfach niemanden. Zuletzt waren die Zuschauerzahlen stark rückläufig, 2018 sahen so wenige zu wie nie zuvor. Und auch wenn 2019 wieder ein paar mehr Menschen einschalteten, hat der Oscar an Glanz verloren.
Es gibt bei den Oscars 2020 bei allem Hader auch gute Zeichen. Die sechs Nominierungen für den südkoreanischen Film „Parasite“zum Beispiel. In den vergangenen Jahren wurden Dokumentationen als Mittel der Gegenwartserkundung immer wichtiger. In dieser Kategorie sind nun fünf Filme nominiert, vier haben Frauen (mit) zu verantworten.
Ein Kanon ist nur so gut wie die Diskussion, die er anstößt. Für die Academy bleibt viel zu tun. Das Herstellen einer ausgeglichenen Entscheidungsgrundlage ist der drängendste Wunsch. Transparenz im Auswahlprozess wäre der andere. Nach welchen Kriterien wird bewertet, und welche Gründe sind konkret dafür ausschlaggebend, dass Martin Scorsese für „The Irishman“oscarwürdig ist, Greta Gerwig für „Little Women“aber nicht?
Wenn das nachvollziehbar gemacht würde, könnten sich diejenigen, die am Ende tatsächlich gewinnen, vielleicht ihrerseits auch mehr freuen.