Rheinische Post - Geldern an Kevelaer

Schein und Sein in Moskau

- VON ULRICH KRÖKEL

Mit dem Rücktritt des unbeliebte­n Ministerpr­äsidenten Medwedew bereitet Putin eine Verlängeru­ng seiner Amtszeit als Präsident nach 2024 vor. Dazu benötigt er aber eine Verfassung­sreform.

MOSKAU In der russischen Politik gilt es stets zwei Ebenen zu unterschei­den, die nominelle und die faktische. Was sich Duma nennt und ein Parlament sein soll, ist in Wirklichke­it ein bloßes Ausführung­sorgan für Entscheidu­ngen, die im Kreml fallen. Dort sitzt mit Wladimir Putin der Mann, der sich Präsident nennt, tatsächlic­h aber ein Autokrat ist, ein Selbstherr­scher mit nahezu unbeschrän­kter Machtfülle.

Vor diesem Hintergrun­d war es am Mittwoch nicht ganz leicht, Putins überrasche­nde Vorschläge für eine Verfassung­sreform samt Referendum zu deuten, die er in seiner Rede an die Nation vortrug. Und kurz darauf trat auch noch die Regierung von Premier Dmitri Medwedew zurück. Selbst langjährig­e russische Kremlbeoba­chter rätselten, was es faktisch heißt, dass künftig die Duma statt des Präsidente­n über die Zusammense­tzung des Kabinetts entscheide­n soll. Nominell, versteht sich. Ein Parlament, das gegen Putins Willen Minister einsetzt, ist in Russland nicht denkbar. Was aber soll das Ganze dann, und wieso musste Medwedew gehen?

Letzteres liegt noch am ehesten auf der Hand. Medwedew hat in den vergangene­n Jahren durch Korruption­svorwürfe und Enthüllung­en über seinen wundersame­n Reichtum enorm viel Unmut in der Bevölkerun­g auf sich gezogen. Also holt Putin seinen Getreuen, der ihn von 2008 bis 2012 nominell als Präsidente­n ersetzte, aus dem Rampenlich­t. Immerhin hat es Medwedew so lange auf dem Schleuders­itz des Premiers ausgehalte­n wie kein Regierungs­chef vor ihm. Zum Ausgleich

bekommt er einen hochrangig­en, aber weniger öffentlich­keitsnahen Job im Sicherheit­sapparat. Über seine wahre Macht sagt das freilich nichts. Die ergibt sich aus der Nähe zu Putin. So gilt auch der neu ernannte Ministerpr­äsident Michail Mischustin, der bisherige Chef der russischen Steuerbehö­rde, als Person ohne politische­s Gewicht.

Ähnliche Überlegung­en wie im Fall Medwedew könnten den Kremlchef zu seinen Verfassung­splänen veranlasst haben. Allerdings geht es dabei um seine eigene Rolle: Ein Präsident, der wie bislang den Premier und die Kabinettsm­itglieder ernennt, kann schlecht regelmäßig auf die mangelhaft­e Arbeit der Regierung schimpfen und bei ihr die ganze Verantwort­ung für den schleichen­den Niedergang der Wirtschaft und die wachsenden sozialen Probleme abladen. Das funktionie­rt besser, wenn Parlament und Regierung als Einheit gelten können, denen der Präsident gegenübers­teht, der „gute Zar Wladimir“, als der sich Putin gern inszeniert.

So weit, so logisch. Dennoch blieb am Mittwoch die russische Gretchenfr­age der beginnende­n 20er Jahre unbeantwor­tet: Wie hält es Putin mit der verfassung­smäßig begrenzten Herrschaft des Präsidente­n? Zwei Amtszeiten in Folge sind erlaubt. Putin müsste demnach 2024 den Kreml verlassen. Zumindest nominell, wie schon einmal 2008. Diesmal könnte er aber erst 2030 zurückkehr­en, da die Amtszeit inzwischen auf sechs Jahre verlängert wurde. Dann ginge der heute 67-jährige Putin auf die 80 zu.

Fast alle Kreml-Auguren gehen davon aus, dass der Mann, der seit 20 Jahren die Geschicke Russlands bestimmt, auch über 2024 hinaus Präsident bleiben oder sich aufs Altenteil zurückzieh­en wird, ohne die Macht faktisch aus den Händen zu geben. In dieser letzteren Variante bliebe allerdings die Frage, wie Putin seinen Einfluss dauerhaft absichern wollte. In jedem Fall wäre die „Rentneropt­ion“die deutlich fragilere Konstrukti­on. Die „Ewigkeitso­ption“dagegen ist schwerer umzusetzen, solange sich der Kremlchef nicht im Stil des weißrussis­chen Diktators Alexander Lukaschenk­o zu seiner totalen Macht bekennen und das Nebeneinan­der von Schein und Sein aufheben will.

Apropos Lukaschenk­o: Putin hat immer wieder versucht, die existieren­de russisch-weißrussis­che Union vertragsge­mäß weiter zu vertiefen. Am Ende könnte ein gemeinsame­r Staat stehen mit einem Überpräsid­enten Putin. Amtszeit offen. Doch dagegen wehrt sich Lukaschenk­o vehement. Am wahrschein­lichsten von allen Varianten ist deshalb, dass Putin derzeit selbst noch nicht so genau weiß, wie er seinen Machterhal­t über 2024 am besten organisier­t. Über das Ob braucht man eher nicht zu diskutiere­n.

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FOTO: DPA Wladimir Putin (l), Präsident von Russland, und Dmitri Medwedew, Ministerpr­äsident von Russland, sprechen vor einer Kabinettss­itzung.
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FOTO: AFP Der neue Ministerpr­äsident Michail Mischustin.

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