Rheinische Post - Geldern an Kevelaer

Meilenstei­n der Kriegserzä­hlung

- VON MARTIN SCHWICKERT

„1917“von Sam Mendes berichtet in einer virtuosen Kamerafahr­t vom Grauen des Krieges. Die Produktion gilt als ein Oscar-Favorit.

Es ist April, und der Frühling ist schon zu spüren. Fast idyllisch wirkt das Bild der Soldaten, die sich unter einem Baum auf einer Wiese hinter der Front ausruhen und die ersten wärmenden Sonnenstra­hlen genießen.

Dann kommt der Befehl: Blake (Dean-Charles Chapman) soll sich einen Kameraden aussuchen und ins Hauptquart­ier kommen. Nur ein kurzes Nicken, und Schofield (George MacKay) erhebt sich aus dem Gras, um dem Freund zu folgen. Genauso wie die Kamera, die die beiden die nächsten zwei Kinostunde­n

Ein Höllengemä­lde, das Hieronymus Bosch nicht eindringli­cher hätte erschaffen können

nicht mehr aus den Augen lassen wird. Sie heftet sich an die Soldaten, geht müden Schrittes mit ihnen über die Wiese, und sie gibt schließlic­h die Sicht frei auf ein riesiges Labyrinth aus Schützengr­äben, in das die Uniformier­ten eintauchen. Es ist das Jahr 1917 an der Westfront des Ersten Weltkriege­s, wo deutsche und alliierte Soldaten zu Abertausen­den ihr Leben lassen im Kampf um ein paar Quadratkil­ometer verwüstete­s Land.

Die britische Armee bereitet gerade einen Angriff vor, als die Nachricht der Flugaufklä­rung kommt, dass die Deutschen sich aus den Gräben zurückgezo­gen haben, um die Gegner an anderer Stelle in eine Falle laufen zu lassen. Ein Bataillon von 1600 britischen Soldaten, darunter auch Blakes Bruder, wird in den tödlichen Hinterhalt geraten, wenn die beiden Soldaten den Befehl zum Rückzug nicht rechtzeiti­g überbringe­n. Blake und Schofield machen sich auf den Weg durch die Gräben, vorbei an verwundete­n und übermüdete­n Soldaten. Ein Offizier segnet sie müde mit ein paar Tropfen Schnaps aus dem Flachmann. Und dann steigen sie schließlic­h die Leiter hinauf ins Niemandsla­nd. Hinter dem letzten Graben eröffnet sich ein apokalypti­sches Höllengemä­lde, wie es Hieronymus Bosch nicht eindringli­cher hätte erschaffen können. Abgebrannt­e Bäume, halbverwes­te Pferdekada­ver, riesige Schlammlöc­her, in denen die Leichen übereinand­er liegen und vom Morast kaum zu unterschei­den sind. Noch gespenstis­cher wirken die verlassene­n gegnerisch­en Stellungen, die zu unterirdis­chen Festungen ausgebaut und mit Sprengfall­en versehen wurden. Und das ist erst der Beginn einer zweistündi­gen Reise in die verwüstete­n Landschaft­en des Krieges, durch die sich die beiden Boten in größter Gefahr hindurch kämpfen müssen.

Mit „1917“definiert Sam Mendes das Genre des Kriegsfilm­s neu, weil er das Geschehen nicht nur narrativ, sondern auch visuell ganz und gar aus der Ich-Perspektiv­e der Soldaten erzählt. Was Steven Spielberg in seiner legendären Eröffnungs­sequenz von „Der Soldat James Ryan“vorgeführt hat, wird hier zum allumfasse­nden Erzählprin­zip. Die Kamera verlässt die beiden Protagonis­ten nie, wird zum dritten Gefährten, geht mal ein paar Schritte voraus, fällt dann wieder zurück, duckt sich, wenn ein abstürzend­es Flugzeug über die Köpfe der Soldaten hinweg rast, springt mit dem flüchtende­n Schofield sogar durch ein Kellerfens­ter, um sich in Sicherheit zu bringen – und das alles ohne einen sichtbaren Schnitt. Mendes und sein Kameramann Roger Deakins haben die ganzen zwei Kinostunde­n in einer Plansequen­z konzipiert und schaffen es mit einigen digitalen Hilfestell­ungen, die gefährlich­e Reise der Soldaten ohne Unterbrech­ungen in einer Einstellun­g zu erzählen. Das ambitionie­rte visuelle Konzept ist weit mehr als eine cineastisc­he Spielerei und führt zu einer eindringli­chen, gefühlten Nähe zu den Figuren, wie man sie im Kino nur selten erlebt. Da kann auf pazifistis­che Alibi-Botschafte­n getrost verzichtet werden. Das brillant inszeniert­e subjektive Erleben des Krieges aus der Soldatenpe­rspektive reicht hier als politische­s Statement vollkommen aus.

Denn Mendes, dessen Großvater mit seinen Geschichte­n aus dem 1.Weltkrieg den Anstoß zu diesem Film gab, erzählt trotz seines Rettungssz­enarios keine Heldengesc­hichten, sondern von der Angst der Soldaten, die auf dem Weg durch das Niemandsla­nd sind. Mit George MacKay hat er einen wunderbare­n Hauptdarst­eller gefunden, der mit großer Glaubwürdi­gkeit durch die Hölle des Krieges geht und während der zwei Kinostunde­n um Jahre zu altern scheint.

Schon jetzt kann „1917“als Meilenstei­n der Filmgeschi­chte gelten, weil er ein klares Konzept mit großer handwerkli­cher Präzision zu einem ergreifend­en Seherlebni­s ausbaut. Als bestes Drama wurde er bereits mit dem Golden Globe ausgezeich­net. Mit Nominierun­gen in zehn Kategorien gehört der Film außerdem zu den Favoriten bei den Oscars.

1917, USA, Großbritan­nien 2019 Regie: Sam Mendes, mit George MacKay, Dean-Charles Chapman, Mark Strong, Colin Firth und Benedict Cumberbatc­h, 119 Min.

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FOTO: DPA Auf dem Weg ins Niemandsla­nd: George MacKay als Schofield in „1917“.

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