Rheinische Post - Geldern an Kevelaer
Die Zukunft der Musik wird 50
Kraftwerk ist die einflussreichste Musikgruppe der Welt. 1970 wurde sie in Düsseldorf gegründet.
DÜSSELDORF Wenn einer fragt, weswegen denn alle immerzu sagen, dass Kraftwerk die Grundlage all der Musik sei, die wir heute hören, braucht man eigentlich nur „deshalb“zu sagen, mit den Lippen einen Trichter zu formen und so zu machen: „Tsch-Tsch-Tschtschtsch“.
Diese Töne sind natürlich nur eine Annäherung, Lautmalerei, und sie sollen „Metall auf Metall“nachempfinden, den Kern des Schaffens von Kraftwerk, das perfekteste Stück Musik, das je in Deutschland produziert wurde. Und, ja: dass man das Wort perfekt nicht steigern kann, weiß der Autor, er tut es aber dennoch. „Metall auf Metall“ist ein zwei Minuten und elf Sekunden langes Zwischenstück in dem als Suite angelegten „Trans Europa Express“aus dem Jahr 1977. Jedes danach komponierte Stück Popmusik hängt gleichsam als Waggon an diesem Zug.
Kraftwerk wurde vor 50 Jahren gegründet, und zwar von den beiden aus gutem Hause stammenden Jungs Ralf Hütter und Florian Schneider. Sie hatten zuvor bereits eine Platte unter dem Bandnamen Organisation veröffentlicht. Allerdings nur in England. Nun bauten sie sich an der Mintropstraße in Düsseldorf ihr eigenes Studio auf, „Kling-Klang“hieß es, und im November 1970 veröffentlichten sie das erste Album, das sie lakonisch „Kraftwerk“nannten.
Man muss bedenken, dass es damals kaum deutsche Musik außer Schlager gab. Populäre Musik wurde stets importiert aus den USA und England, der Krieg hatte die deutsche Tradition unterbrochen. Kraftwerk spielten zunächst das, was heute Krautrock heißt und die erste selbstbewusste Wortmeldung des Nachkriegs-Popdeutschlands war: lange, zumeist instrumentale Kompositionen, die das Songschema überwanden. Kraftwerk manipulierten das traditionelle Instrumentarium, und seit sie 1973 erstmals Synthesizer benutzen, bauten sie voll auf den künstlichen Klang.
Hütter und Schneider lösten sich von allem, was mit Rockmusik assoziiert wurde. Sie inszenierten sich als Melodienmechaniker, das Studio war ihnen ein Labor, in dem sie mit wechselnden Kollegen – in der klassischen Phase mit Wolfgang Flür und Karl Bartos – ihren Sound komprimierten, reduzierten und auf die reine Form herunterkochten. Kraftwerk entpersönlichte die Popmusik, das ist das Revolutionäre. Sie tilgten das Subjekt aus dem Pop.
Rockmusik hat von jeher etwas Widerständiges. Sie verteidigt das Jungsein gegen Eltern und Lehrer. Sie feiert den Moment. Rockmusik ist Körpermusik, die aus dem Dagegensein ihre Kraft bezieht. Kraftwerk indes rebellierten nicht, sie strukturierten. Sie trugen keine Lederjacken, sondern Kittel. Sie sahen bereits alt aus, als sie noch jung waren. Ihnen geht es um mehr als den Moment, sie wollen die Zeit aufheben. Deswegen feiern sie die serielle Fertigung als Innovation. Ihre besten Stücke sind so angelegt, dass sie – einmal angestoßen – ewig laufen können und sich allmählich lösen vom Urheber. Die Kraftwerk-Mitglieder entzogen sich der Greifbarkeit, verbarrikadierten sich im Mythos, den sie bis heute nähren. In Konzerten treten sie am Ende einzeln von der Bühne, die Musik läuft weiter, und im letzten Stück des Abends heißt es programmatisch: „Es wird immer weitergehen, Musik als Träger von Ideen“.
Kraftwerk ist keine Band, sondern ein Ingenieurskollektiv mit 168-Stunden-Woche. Sie schreiben die Zukunft mit, bevor sie sich ereignet, deshalb ist in ihrem Werk schon alles enthalten, was uns umtreibt. House, Techno, Industrial, Synthie-Pop, New Wave, HipHop und Minimal-Techno beziehen ihre Inspiration von Kraftwerk. Big Data, Mobilität und Atomkraft sind Themen der Kraftwerk-Songs.
Mensch + Maschine = Mensch-Maschine. Für das Stück „Wir sind die Roboter“schicken die Musiker Maschinenversionen ihrer selbst auf die Bühne. Kraftwerk ist ein Gesamtkunstwerk, sie reflektieren die produktionsästhetische Konsequenz ihres Schaffens in aller Totalität. Die Tagträume der Romantik, der Automatenmensch des E.T.A. Hoffmann etwa, sind ebenso präsent wie die Visionen eines Fritz Lang, Wernher von Braun oder Dieter Rams.
Auf den frühen Kraftwerk-Platten findet man Motive, die man auch auf den späten wiedererkennt. Es geht ihnen denn auch nicht um Entwicklung, sondern um Perfektionierung. Das ist der Grund, warum sie ihre ersten drei Alben nie neu aufgelegt haben, der offizielle „Katalog“beginnt erst mit „Autobahn“(1974). Hütter/Schneider hatten ihren Sound früh gefunden. Sie passten ihn jeweils im Sinne von Updates an die veränderten Produktionsmöglichkeiten an. Sie programmierten bereits, als es noch keine Hardware gab, die man hätte programmieren können. Sie produzierten eine Musik, die zu produzieren technisch erst später möglich wurde. Sie waren auf der Suche nach dem Stück, das mit allen anderen Stücken Schluss macht.
Heute ist nur mehr Ralf Hütter aus der großen Laborbelegschaft übriggeblieben. Er hat seit 1986 nichts wirklich Neues veröffentlicht („Tour de France Soundtracks“von 2003 basiert in Teilen auf altem Material). Und auch, dass er mit Kraftwerk in Museen auftritt und 3D-Projektionen zeigt, die an die Vergangenheit gemahnen, darf er sich erlauben. Der Kraftwerk-Sound kündet nämlich nach wie vor von der Zukunft. „Metall auf Metall“kann man auch 43 Jahre nach Entstehung nicht verbessern.
Kraftwerk ist der Soundtrack zum Futur II: Ich werde Musik für die Ewigkeit gemacht haben.
Es geht ihnen nicht um Entwicklung, sondern um Perfektionierung des Klangs