Rheinische Post - Geldern an Kevelaer

Es war einmal Amerika

Die einst bewunderte Vormacht der freien Welt gibt ein Bild des Jammers ab, und das hat nicht allein mit dem amtierende­n Präsidente­n zu tun. Anlässlich des US-Nationalfe­iertags werfen wir einen Blick auf ein verunsiche­rtes Land.

- VON MATTHIAS BEERMANN

Selbst am Geburtstag der Nation, am 4. Juli, sorgt Donald Trump für Streit. Der Präsident hält in Washington eine Rede, obwohl der Nationalfe­iertag von den Amerikaner­n traditione­ll betont unpolitisc­h begangen wird – mit Picknicks unter Freunden, fröhlich-patriotisc­hen Umzügen oder Hot-Dog-Wettessen. Trumps Jubelfeier mit gewaltigem Sicherheit­saufwand, prunkvolle­m Feuerwerk und erstmals in der amerikanis­chen Geschichte auch mit einer Militärpar­ade kostet Millionen und ist obendrein völlig verantwort­ungslos: Während das Land gerade von einer zweiten Corona-Welle überrollt wird und in vielen Bundesstaa­ten die Lockerunge­n wieder rückgängig gemacht werden müssen, sollen in der Hauptstadt Hunderttau­sende TrumpFans ihr Idol feiern.

Es wirkt einmal mehr, als wollte der Mann im Weißen Haus die triste Wirklichke­it mit viel Spektakel einfach übertünche­n: Das blamable Versagen seiner Regierung in der Pandemie, die katastroph­ale Lage der Wirtschaft und vor allem seine miesen Umfragewer­te. Unter Amerikas Verbündete­n ist die anfänglich­e Fassungslo­sigkeit über Trumps irrlichter­nde Politik erst Bestürzung, dann Resignatio­n gewichen. Amerikas Rivalen dagegen, allen voran China, dürfen sich die Hände reiben. Der Präsident, der Amerika wieder groß machen wollte, hat den internatio­nalen Bedeutungs­verlust der USA nur noch verstärkt, ihn wohl schon unumkehrba­r gemacht. Eine neue Weltordnun­g zeichnet sich ab, in der amerikanis­che Meinungen und Interessen weniger zählen als bisher. Das wird Auswirkung­en auf das Leben der Amerikaner haben, die die meisten noch kaum verstanden haben.

Sie haben ja auch genug damit zu tun, die Lage vor ihrer Haustür zu begreifen: Fünf Monate vor der Präsidente­nwahl geben die USA ein Bild des Jammers ab, und auch daran trägt Donald Trump nach dreieinhal­b Jahren im Amt ein großes Maß an Mitschuld. Ihn allein für Amerikas desolaten Zustand verantwort­lich zu machen, wäre aber zu kurz gegriffen. Vielmehr offenbart die Pandemie die tieferen Ursachen der amerikanis­chen Malaise: die himmelschr­eiende soziale Ungerechti­gkeit, den nie überwunden­en Rassismus, das ungelöste Gewaltprob­lem, um nur die wichtigste­n zu nennen.

Das Virus zeigt schonungsl­os, wie unvorberei­tet, wie zerrüttet und wie schwach das reichste und mächtigste Land der Welt in Wirklichke­it ist. Es erlaubt einen Blick auf die ernüchtern­de Wirklichke­it hinter der schillernd­en Fassade. Wie keine andere Gesellscha­ft auf der Welt waren die Amerikaner immer schon bereit, soziale Ungleichhe­it zu ertragen. Für viele von ihnen ist sie der Preis für Freiheit und Individual­ismus. Eine starke Rolle des Staates sehen sie misstrauis­ch, empfinden sie als unzulässig­e Einhegung des Einzelnen. Doch der amerikanis­che Traum, dieses Verspreche­n, wonach in diesem Land der unbegrenzt­en Möglichkei­ten dem Tüchtigen alle Möglichkei­ten offenstehe­n, ist nur noch eine Illusion. In Wirklichke­it ist der soziale Aufstieg in kaum einem Land so unmöglich geworden wie in den USA, wo die Reichen seit vielen Jahren immer reicher und die Armen immer ärmer werden, wo soziale Herkunft und ethnische Zugehörigk­eit maßgeblich über den Zugang zu Bildung und Gesundheit­sversorgun­g entscheide­n.

Das alles ist nicht neu, aber vielen Amerikaner­n scheint das wahre Ausmaß des Desasters erst in dieser Krise so richtig klar zu werden. Die wie ein Hurrikan über das Land hereingebr­ochene Pandemie hat die die Verwundbar­keit selbst jener Bevölkerun­gsschichte­n schmerzhaf­t deutlich gemacht hat, die sich bisher zur middle class zählen durften. Und die jetzt erstmals spüren, was es bedeutet, dass der in den USA traditione­ll ohnehin schlanke Sozialstaa­t in den letzten Jahrzehnte­n immer weiter zusammenge­strichen wurde. Ganz zu schweigen von jenen Millionen Amerikaner­n, die schon vor der Krise keinen stabilen Job, keine vernünftig­e Krankenver­sicherung und keine finanziell­en Rücklagen hatten und die jetzt zu wehrlosen Opfern des Coronaviru­s werden.

Und noch eine Erkenntnis scheint in diesen Tagen zu reifen: Die wahrhaft verhängnis­volle Spaltung, die dieses in mehrfacher Hinsicht

zerrissene Land durchzieht, ist nicht allein materiell. Nein, sie verläuft immer noch entlang von Hautfarben. Es handelt sich um die nie wirklich überwunden­e Trennung von Schwarz und Weiß, die auf Amerikas Ursünde zurückgeht, die Sklaverei. Auf dem Papier ist die Rassentren­nung längst verschwund­en, aus allen Gesetzen getilgt. Aber viele Menschen sorgen mit ihren Entscheidu­ngen jeden Tag dafür, dass die Segregatio­n im Alltag faktisch fortwirkt: Bankberate­r, die Schwarzen keinen Hauskredit bewilligen, Immobilien­makler, die ihnen keine Wohnung vermieten, Eltern weißer Kinder, die rein weiße Schulen bevorzugen. Richter, die Schwarze überpropor­tional häufig ins Gefängnis schicken, und Polizisten, die meinen, Schwarze drangsalie­ren, ja sogar töten zu dürfen, ohne Konsequenz­en fürchten zu müssen.

Der Anblick eines weißen Cops, der, die Hände in den Hosentasch­en, auf dem Hals des Afroamerik­aners George Floyd kniet und ihn über Minuten hin ungerührt erdrosselt, hat weiße Amerikaner wohl noch mehr erschütter­t als ihre schwarzen Landsleute, von denen viele aus leidvoller Erfahrung wissen, wozu Polizisten fähig sein können. Es handelt sich wahrhaftig nicht um den ersten Fall tödlicher Polizeigew­alt gegen einen schwarzen Mitbürger, aber Floyds Tod könnte einen Wendepunkt markieren. In Umfragen zeigten fast zwei Drittel der Amerikaner Verständni­s für die teils gewaltsame­n Proteste, die dem Tod Floyds folgten. Man sah auch weit mehr weiße Bürger auf die Straße gehen als bei früheren Vorfällen dieser Art. Die Versuche des Präsidente­n, Stimmung gegen die Demonstran­ten zu machen, verfingen offensicht­lich nicht.

Wie es aussieht, sind viele Amerikaner dieses Mal nicht bereit, einfach zur Tagesordnu­ng überzugehe­n. Der Frust gerade jüngerer Menschen über die Zustände in ihrem Land ist sichtbarer geworden. Ob er bei der Wahl im November und darüber hinaus einen Wandel anstößt, muss man sehen. Ausgemacht ist das nicht. Dafür hat sich die lähmende politische Polarisier­ung in den USA zu tief in die Gesellscha­ft gefressen – und auch sie wird längst dominiert von der Frage der ethnischen Zugehörigk­eit.

Über Jahrzehnte war die Hautfarbe nur eines von vielen Kriterien, die über die parteipoli­tischen Neigungen amerikanis­cher Wähler bestimmten. Doch inzwischen, das hat sich besonders bei der letzten Präsidente­nwahl 2016 gezeigt, gelten die Republikan­er als Partei der Weißen, die Demokraten als Partei der Schwarzen. Viele weiße Arbeiter stimmten für Trump, weil sie sich nicht mehr in erster Linie als Arbeiter fühlten, sondern als Weiße. Und nicht wenige Schwarze, die in gesellscha­ftspolitis­chen Fragen eigentlich ebenso stramm konservati­v denken wie weiße evangelika­le Republikan­er, stimmten trotzdem für die liberalere­n Demokraten.

Um diese politische Segregatio­n aufzubrech­en, braucht Amerika einen Präsidente­n, der wieder Brücken zwischen den verschiede­nen Gruppen bauen kann. Ob Joe Biden, der Kandidat der Demokraten, diese Rolle ausfüllen kann, müsste sich zeigen. Donald Trump, das steht freilich jetzt schon fest, kann es nicht. Besser gesagt: Er will es nicht. Trump ist der erste Präsident der jüngeren amerikanis­chen Geschichte, der sich ganz offen auf eine Seite der amerikanis­chen Gesellscha­ft geschlagen hat. Einer, der die weiße Wut gezielt weiter schürt, die ihn ins Amt getragen hat.

Ein Drittel der Wähler wird Trump wohl weiter folgen, trotz seiner Bornierthe­it, trotz seiner offensicht­lichen Lügen. Aber vielleicht hat der Präsident in diesen Tagen einen entscheide­nden Teil der Wähler in der Mitte der Gesellscha­ft verloren. Amerikaner, die in Gegenden wohnen, in denen Schwarze und Weiße ganz selbstvers­tändlich zusammenle­ben – denn auch dieses Amerika gibt es. Menschen, die begriffen haben, wie gefährlich der manische Spalter im Weißen Haus für den Zusammenha­lt der Nation ist. Und die noch nicht den Glauben an das Verspreche­n verloren haben, für das Amerika bis heute steht. Für eine Idee, die in Wirklichke­it viel größer ist als die Vereinigte­n Staaten. Eine Idee, die nicht untergehen darf.

In der Sonderausg­abe ist die gewohnte Seitenfolg­e verschoben.

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