Rheinische Post - Geldern an Kevelaer
Es war einmal Amerika
Die einst bewunderte Vormacht der freien Welt gibt ein Bild des Jammers ab, und das hat nicht allein mit dem amtierenden Präsidenten zu tun. Anlässlich des US-Nationalfeiertags werfen wir einen Blick auf ein verunsichertes Land.
Selbst am Geburtstag der Nation, am 4. Juli, sorgt Donald Trump für Streit. Der Präsident hält in Washington eine Rede, obwohl der Nationalfeiertag von den Amerikanern traditionell betont unpolitisch begangen wird – mit Picknicks unter Freunden, fröhlich-patriotischen Umzügen oder Hot-Dog-Wettessen. Trumps Jubelfeier mit gewaltigem Sicherheitsaufwand, prunkvollem Feuerwerk und erstmals in der amerikanischen Geschichte auch mit einer Militärparade kostet Millionen und ist obendrein völlig verantwortungslos: Während das Land gerade von einer zweiten Corona-Welle überrollt wird und in vielen Bundesstaaten die Lockerungen wieder rückgängig gemacht werden müssen, sollen in der Hauptstadt Hunderttausende TrumpFans ihr Idol feiern.
Es wirkt einmal mehr, als wollte der Mann im Weißen Haus die triste Wirklichkeit mit viel Spektakel einfach übertünchen: Das blamable Versagen seiner Regierung in der Pandemie, die katastrophale Lage der Wirtschaft und vor allem seine miesen Umfragewerte. Unter Amerikas Verbündeten ist die anfängliche Fassungslosigkeit über Trumps irrlichternde Politik erst Bestürzung, dann Resignation gewichen. Amerikas Rivalen dagegen, allen voran China, dürfen sich die Hände reiben. Der Präsident, der Amerika wieder groß machen wollte, hat den internationalen Bedeutungsverlust der USA nur noch verstärkt, ihn wohl schon unumkehrbar gemacht. Eine neue Weltordnung zeichnet sich ab, in der amerikanische Meinungen und Interessen weniger zählen als bisher. Das wird Auswirkungen auf das Leben der Amerikaner haben, die die meisten noch kaum verstanden haben.
Sie haben ja auch genug damit zu tun, die Lage vor ihrer Haustür zu begreifen: Fünf Monate vor der Präsidentenwahl geben die USA ein Bild des Jammers ab, und auch daran trägt Donald Trump nach dreieinhalb Jahren im Amt ein großes Maß an Mitschuld. Ihn allein für Amerikas desolaten Zustand verantwortlich zu machen, wäre aber zu kurz gegriffen. Vielmehr offenbart die Pandemie die tieferen Ursachen der amerikanischen Malaise: die himmelschreiende soziale Ungerechtigkeit, den nie überwundenen Rassismus, das ungelöste Gewaltproblem, um nur die wichtigsten zu nennen.
Das Virus zeigt schonungslos, wie unvorbereitet, wie zerrüttet und wie schwach das reichste und mächtigste Land der Welt in Wirklichkeit ist. Es erlaubt einen Blick auf die ernüchternde Wirklichkeit hinter der schillernden Fassade. Wie keine andere Gesellschaft auf der Welt waren die Amerikaner immer schon bereit, soziale Ungleichheit zu ertragen. Für viele von ihnen ist sie der Preis für Freiheit und Individualismus. Eine starke Rolle des Staates sehen sie misstrauisch, empfinden sie als unzulässige Einhegung des Einzelnen. Doch der amerikanische Traum, dieses Versprechen, wonach in diesem Land der unbegrenzten Möglichkeiten dem Tüchtigen alle Möglichkeiten offenstehen, ist nur noch eine Illusion. In Wirklichkeit ist der soziale Aufstieg in kaum einem Land so unmöglich geworden wie in den USA, wo die Reichen seit vielen Jahren immer reicher und die Armen immer ärmer werden, wo soziale Herkunft und ethnische Zugehörigkeit maßgeblich über den Zugang zu Bildung und Gesundheitsversorgung entscheiden.
Das alles ist nicht neu, aber vielen Amerikanern scheint das wahre Ausmaß des Desasters erst in dieser Krise so richtig klar zu werden. Die wie ein Hurrikan über das Land hereingebrochene Pandemie hat die die Verwundbarkeit selbst jener Bevölkerungsschichten schmerzhaft deutlich gemacht hat, die sich bisher zur middle class zählen durften. Und die jetzt erstmals spüren, was es bedeutet, dass der in den USA traditionell ohnehin schlanke Sozialstaat in den letzten Jahrzehnten immer weiter zusammengestrichen wurde. Ganz zu schweigen von jenen Millionen Amerikanern, die schon vor der Krise keinen stabilen Job, keine vernünftige Krankenversicherung und keine finanziellen Rücklagen hatten und die jetzt zu wehrlosen Opfern des Coronavirus werden.
Und noch eine Erkenntnis scheint in diesen Tagen zu reifen: Die wahrhaft verhängnisvolle Spaltung, die dieses in mehrfacher Hinsicht
zerrissene Land durchzieht, ist nicht allein materiell. Nein, sie verläuft immer noch entlang von Hautfarben. Es handelt sich um die nie wirklich überwundene Trennung von Schwarz und Weiß, die auf Amerikas Ursünde zurückgeht, die Sklaverei. Auf dem Papier ist die Rassentrennung längst verschwunden, aus allen Gesetzen getilgt. Aber viele Menschen sorgen mit ihren Entscheidungen jeden Tag dafür, dass die Segregation im Alltag faktisch fortwirkt: Bankberater, die Schwarzen keinen Hauskredit bewilligen, Immobilienmakler, die ihnen keine Wohnung vermieten, Eltern weißer Kinder, die rein weiße Schulen bevorzugen. Richter, die Schwarze überproportional häufig ins Gefängnis schicken, und Polizisten, die meinen, Schwarze drangsalieren, ja sogar töten zu dürfen, ohne Konsequenzen fürchten zu müssen.
Der Anblick eines weißen Cops, der, die Hände in den Hosentaschen, auf dem Hals des Afroamerikaners George Floyd kniet und ihn über Minuten hin ungerührt erdrosselt, hat weiße Amerikaner wohl noch mehr erschüttert als ihre schwarzen Landsleute, von denen viele aus leidvoller Erfahrung wissen, wozu Polizisten fähig sein können. Es handelt sich wahrhaftig nicht um den ersten Fall tödlicher Polizeigewalt gegen einen schwarzen Mitbürger, aber Floyds Tod könnte einen Wendepunkt markieren. In Umfragen zeigten fast zwei Drittel der Amerikaner Verständnis für die teils gewaltsamen Proteste, die dem Tod Floyds folgten. Man sah auch weit mehr weiße Bürger auf die Straße gehen als bei früheren Vorfällen dieser Art. Die Versuche des Präsidenten, Stimmung gegen die Demonstranten zu machen, verfingen offensichtlich nicht.
Wie es aussieht, sind viele Amerikaner dieses Mal nicht bereit, einfach zur Tagesordnung überzugehen. Der Frust gerade jüngerer Menschen über die Zustände in ihrem Land ist sichtbarer geworden. Ob er bei der Wahl im November und darüber hinaus einen Wandel anstößt, muss man sehen. Ausgemacht ist das nicht. Dafür hat sich die lähmende politische Polarisierung in den USA zu tief in die Gesellschaft gefressen – und auch sie wird längst dominiert von der Frage der ethnischen Zugehörigkeit.
Über Jahrzehnte war die Hautfarbe nur eines von vielen Kriterien, die über die parteipolitischen Neigungen amerikanischer Wähler bestimmten. Doch inzwischen, das hat sich besonders bei der letzten Präsidentenwahl 2016 gezeigt, gelten die Republikaner als Partei der Weißen, die Demokraten als Partei der Schwarzen. Viele weiße Arbeiter stimmten für Trump, weil sie sich nicht mehr in erster Linie als Arbeiter fühlten, sondern als Weiße. Und nicht wenige Schwarze, die in gesellschaftspolitischen Fragen eigentlich ebenso stramm konservativ denken wie weiße evangelikale Republikaner, stimmten trotzdem für die liberaleren Demokraten.
Um diese politische Segregation aufzubrechen, braucht Amerika einen Präsidenten, der wieder Brücken zwischen den verschiedenen Gruppen bauen kann. Ob Joe Biden, der Kandidat der Demokraten, diese Rolle ausfüllen kann, müsste sich zeigen. Donald Trump, das steht freilich jetzt schon fest, kann es nicht. Besser gesagt: Er will es nicht. Trump ist der erste Präsident der jüngeren amerikanischen Geschichte, der sich ganz offen auf eine Seite der amerikanischen Gesellschaft geschlagen hat. Einer, der die weiße Wut gezielt weiter schürt, die ihn ins Amt getragen hat.
Ein Drittel der Wähler wird Trump wohl weiter folgen, trotz seiner Borniertheit, trotz seiner offensichtlichen Lügen. Aber vielleicht hat der Präsident in diesen Tagen einen entscheidenden Teil der Wähler in der Mitte der Gesellschaft verloren. Amerikaner, die in Gegenden wohnen, in denen Schwarze und Weiße ganz selbstverständlich zusammenleben – denn auch dieses Amerika gibt es. Menschen, die begriffen haben, wie gefährlich der manische Spalter im Weißen Haus für den Zusammenhalt der Nation ist. Und die noch nicht den Glauben an das Versprechen verloren haben, für das Amerika bis heute steht. Für eine Idee, die in Wirklichkeit viel größer ist als die Vereinigten Staaten. Eine Idee, die nicht untergehen darf.
In der Sonderausgabe ist die gewohnte Seitenfolge verschoben.