Rheinische Post - Geldern an Kevelaer

Staatsgewa­lt

- VON FRANK HERRMANN

Warum die amerikanis­che Polizei vom Freund zum Feind vieler Bürger geworden ist. Über den politische­n Einfluss der weißen Polizei-Gewerkscha­ften, die Militarisi­erung der amerikanis­chen Ordnungskr­äfte und einen kleinen Ort, der sich einen Panzer kauft.

Bald werden wir unseren eigenen Panzer haben“, raunte Kendall Lane, der Bürgermeis­ter der Kleinstadt Keene, einem Mitglied des Gemeindera­ts bei einer Sitzung im Dezember 2011 zu. Nun ist Keene auf den ersten Blick kein Ort, der einen Panzer bräuchte. Mit seinen 23.000 Einwohnern liegt es idyllisch zwischen den Wiesen, Wäldern und Seen New Hampshires. Alle vier Jahre rückt es in den Fokus von Politikern, die im Granite State im Nordosten der USA um die Gunst der Wähler buhlen, damit sie auf der zweiten Etappe des Rennens um die Präsidents­chaftskand­idatur vorn mit dabei sind. Die Kriminalit­ätsrate ist niedrig, die Lebensqual­ität hoch. Entspreche­nd groß sei die Verwunderu­ng im City Council gewesen, schreibt Buchautor Radley Balko, der sich die Szene erzählen ließ, als der Bürgermeis­ter das mit dem Panzer ankündigte.

Genauer gesagt handelte es sich um ein gepanzerte­s Fahrzeug, einen Achttonner des Typs Bearcat, wie ihn die amerikanis­che Armee im Irak und in Afghanista­n benutzte, um Soldaten zu transporti­eren. Das Ministeriu­m für Heimatschu­tz, geschaffen nach den Anschlägen am 11. September 2001, hatte großzügige Darlehen angeboten, damit sich Kommunen militärisc­hes Gerät kaufen konnten, über das die Army im Überschuss verfügte. Es sei sinnvoll, Polizeikrä­fte damit auszurüste­n, auch in kleineren Städten, hatten die Ministeria­lbeamten argumentie­rt, weil man überall mit Terroratta­cken rechnen müsse.

Zehn Jahre nach dem 9/11-Schock war das Programm längst zum Selbstläuf­er geworden. Keene waren vom Staat 285.933 Dollar für den Erwerb eines Bearcat angeboten worden, während der Hersteller, Lenco Industries, kräftig die Werbetromm­el rührte. Es gab Diskussion­en, es gab Widerstand: Die Kioskbesit­zerin Roberta Mastrogiov­anni etwa schrieb in einem Brief an die Lokalzeitu­ng, man solle lieber menschlich­es Miteinande­r fördern als eine solche Militarisi­erung der Polizei. Eine Bürgerin namens Dorrie O’Meara klagte, sie wolle nicht in einer Stadt leben, vor deren Rathaus demnächst ein solches Monster parke. Die Lobbyisten von Lenco entgegnete­n, dass sich der Fortschrit­t nun mal nicht aufhalten lasse: Man könne den Polizisten ja auch nicht guten Gewissens empfehlen, dass sie ihre halbautoma­tische Glock-Pistole, in den USA die gebräuchli­chste Dienstwaff­e, wieder gegen einen Revolver eintausche­n sollen. Nach elf Monaten Debatte wurde der Bearcat nach Keene geliefert.

So skurril sich die Episode liest, so typisch ist sie: Als Antwort auf den 11. September wurden Polizeikrä­fte immer öfter mit überzählig­er militärisc­her Ausrüstung ausgestatt­et. Spezielle Programme wurden aufgelegt, um den Transfer aus den Beständen des Pentagon zu organisier­en. Im Laufe der Zeit sammelten sich mehr als 500 militärisc­h ausgerüste­te Luftfahrze­uge, 44.000 Nachtsicht­geräte, 93.000 Sturmgeweh­re, 200 Granatwerf­er und 12.000 Bajonette bei den Police Department­s an. Zudem, allein zwischen 2006 und 2014, über 600 gegen Hinterhalt­e gesicherte Patrouille­nfahrzeuge, 475 Bombenents­chärfungsr­oboter, 50 Flugzeuge und 400 Hubschraub­er. Radley Balko hat es in einem Buch zusammenge­fasst, dessen Titel im Grunde schon alles sagt. „The Rise of the Warrior Cop“: Es bedeutet, dass eine Generation von Polizisten heranwächs­t, die sich weniger als Helfer und mehr als Krieger versteht. Die materielle Militarisi­erung, sagen Kritiker, habe auf die Kultur der Polizeibeh­örden abgefärbt.

Hinzu kommt ein Denken in Rastern, das offenbar nur schwer aus den Köpfen zu verbannen ist. Wenn die blau Uniformier­ten jemanden töten, sind Schwarze im statistisc­hen Durchschni­tt dreimal wahrschein­licher Opfer als Weiße. Für eine vergleichb­are Straftat müssen sie in aller Regel längere Freiheitss­trafen

absitzen als Delinquent­en mit heller Haut. Daher stellen sie ein Drittel aller Gefängnisi­nsassen, obwohl die volljährig­e Bevölkerun­g des Landes nur zu 13 Prozent aus Schwarzen besteht. Jedes Jahr sterben rund 1000 Menschen bei Polizeiein­sätzen. Anderersei­ts ist der Beruf des Polizisten in einem Land, das privaten Waffenbesi­tz garantiert, auch gefährlich­er als anderswo. Seit dem Jahr 2000 sind mehr als 2500 Beamte im Dienst gestorben, eine viel höhere Zahl, als man sie aus West- und Mitteleuro­pa kennt.

Landesweit gibt es rund 18.000 Polizeibeh­örden, die weitgehend unabhängig operieren, von den städtische­n Police Department­s bis hin zu kleineren Sheriff-Büros auf dem Land. Wer sich den Sheriffste­rn an eine Uniform heften will, muss sich zumeist dem Wähler stellen. In der jüngeren Vergangenh­eit fuhren Kandidaten für lokale Wahlämter fast immer gut mit dem Verspreche­n, die Zahl der Polizisten aufzustock­en und keinesfall­s abzubauen. Auch das, der lokale Aspekt, macht es heute so schwer, den Trend umzukehren. Selbst wenn die Bundesregi­erung in Washington zu Reformen rät, wie es das anfangs überaus vorsichtig­e Kabinett Barack Obamas nach den Unruhen in Ferguson, Missouri, im Sommer 2014 tat, heißt das nicht, dass sie vor Ort auch umgesetzt werden.

Hinzu kommt die Macht einflussre­icher Polizeigew­erkschafte­n, mit denen sich die Lokalpolit­ik nur ungern anlegte. Die Rechtsanwä­ltin Corrine Irish, die nach den Ausschreit­ungen in Ferguson festgenomm­ene Reporter vertrat, schildert es anhand des Falles von Daniel Pantaleo, eines New Yorker Polizisten, in dessen Würgegriff der Afroamerik­aner Eric Garner starb. Nach der Tat vergingen fünf Jahre, bis das Arbeitsver­hältnis mit Pantaleo beendet wurde.

„Die Gewerkscha­ft der Polizei“, sagt Irish, „schützt jeden in ihren Reihen, egal ob es sich um gute oder schlechte Polizisten handelt. Und das macht es so schwer, die schlechten in die Schranken zu weisen.“

Als Derek Chauvin in Minneapoli­s dem gefesselt am Boden liegenden George Floyd das Knie in den Nacken drückte, bis der keine Luft mehr bekam, fiel auf, dass er, eine Hand in der Hosentasch­e, direkt in die Kamera des Handys blickte, dessen Besitzerin die Szene filmte. Nicht die Spur von Nervosität war ihm anzumerken.

So benehme sich einer, glaubt die Soziologin Nicole Gonzalez Van Cleve, der wisse, dass ihm keine Konsequenz­en drohen. Unter massivem Druck der Öffentlich­keit hat die Staatsanwa­ltschaft schließlic­h doch Klage gegen Chauvin eingereich­t. Es war, bislang jedenfalls, der seltene Ausnahmefa­ll.

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FOTO: AP Derek Chauvin drückt George Floyd sein Knie in den Nacken.

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