Rheinische Post - Geldern an Kevelaer
Staatsgewalt
Warum die amerikanische Polizei vom Freund zum Feind vieler Bürger geworden ist. Über den politischen Einfluss der weißen Polizei-Gewerkschaften, die Militarisierung der amerikanischen Ordnungskräfte und einen kleinen Ort, der sich einen Panzer kauft.
Bald werden wir unseren eigenen Panzer haben“, raunte Kendall Lane, der Bürgermeister der Kleinstadt Keene, einem Mitglied des Gemeinderats bei einer Sitzung im Dezember 2011 zu. Nun ist Keene auf den ersten Blick kein Ort, der einen Panzer bräuchte. Mit seinen 23.000 Einwohnern liegt es idyllisch zwischen den Wiesen, Wäldern und Seen New Hampshires. Alle vier Jahre rückt es in den Fokus von Politikern, die im Granite State im Nordosten der USA um die Gunst der Wähler buhlen, damit sie auf der zweiten Etappe des Rennens um die Präsidentschaftskandidatur vorn mit dabei sind. Die Kriminalitätsrate ist niedrig, die Lebensqualität hoch. Entsprechend groß sei die Verwunderung im City Council gewesen, schreibt Buchautor Radley Balko, der sich die Szene erzählen ließ, als der Bürgermeister das mit dem Panzer ankündigte.
Genauer gesagt handelte es sich um ein gepanzertes Fahrzeug, einen Achttonner des Typs Bearcat, wie ihn die amerikanische Armee im Irak und in Afghanistan benutzte, um Soldaten zu transportieren. Das Ministerium für Heimatschutz, geschaffen nach den Anschlägen am 11. September 2001, hatte großzügige Darlehen angeboten, damit sich Kommunen militärisches Gerät kaufen konnten, über das die Army im Überschuss verfügte. Es sei sinnvoll, Polizeikräfte damit auszurüsten, auch in kleineren Städten, hatten die Ministerialbeamten argumentiert, weil man überall mit Terrorattacken rechnen müsse.
Zehn Jahre nach dem 9/11-Schock war das Programm längst zum Selbstläufer geworden. Keene waren vom Staat 285.933 Dollar für den Erwerb eines Bearcat angeboten worden, während der Hersteller, Lenco Industries, kräftig die Werbetrommel rührte. Es gab Diskussionen, es gab Widerstand: Die Kioskbesitzerin Roberta Mastrogiovanni etwa schrieb in einem Brief an die Lokalzeitung, man solle lieber menschliches Miteinander fördern als eine solche Militarisierung der Polizei. Eine Bürgerin namens Dorrie O’Meara klagte, sie wolle nicht in einer Stadt leben, vor deren Rathaus demnächst ein solches Monster parke. Die Lobbyisten von Lenco entgegneten, dass sich der Fortschritt nun mal nicht aufhalten lasse: Man könne den Polizisten ja auch nicht guten Gewissens empfehlen, dass sie ihre halbautomatische Glock-Pistole, in den USA die gebräuchlichste Dienstwaffe, wieder gegen einen Revolver eintauschen sollen. Nach elf Monaten Debatte wurde der Bearcat nach Keene geliefert.
So skurril sich die Episode liest, so typisch ist sie: Als Antwort auf den 11. September wurden Polizeikräfte immer öfter mit überzähliger militärischer Ausrüstung ausgestattet. Spezielle Programme wurden aufgelegt, um den Transfer aus den Beständen des Pentagon zu organisieren. Im Laufe der Zeit sammelten sich mehr als 500 militärisch ausgerüstete Luftfahrzeuge, 44.000 Nachtsichtgeräte, 93.000 Sturmgewehre, 200 Granatwerfer und 12.000 Bajonette bei den Police Departments an. Zudem, allein zwischen 2006 und 2014, über 600 gegen Hinterhalte gesicherte Patrouillenfahrzeuge, 475 Bombenentschärfungsroboter, 50 Flugzeuge und 400 Hubschrauber. Radley Balko hat es in einem Buch zusammengefasst, dessen Titel im Grunde schon alles sagt. „The Rise of the Warrior Cop“: Es bedeutet, dass eine Generation von Polizisten heranwächst, die sich weniger als Helfer und mehr als Krieger versteht. Die materielle Militarisierung, sagen Kritiker, habe auf die Kultur der Polizeibehörden abgefärbt.
Hinzu kommt ein Denken in Rastern, das offenbar nur schwer aus den Köpfen zu verbannen ist. Wenn die blau Uniformierten jemanden töten, sind Schwarze im statistischen Durchschnitt dreimal wahrscheinlicher Opfer als Weiße. Für eine vergleichbare Straftat müssen sie in aller Regel längere Freiheitsstrafen
absitzen als Delinquenten mit heller Haut. Daher stellen sie ein Drittel aller Gefängnisinsassen, obwohl die volljährige Bevölkerung des Landes nur zu 13 Prozent aus Schwarzen besteht. Jedes Jahr sterben rund 1000 Menschen bei Polizeieinsätzen. Andererseits ist der Beruf des Polizisten in einem Land, das privaten Waffenbesitz garantiert, auch gefährlicher als anderswo. Seit dem Jahr 2000 sind mehr als 2500 Beamte im Dienst gestorben, eine viel höhere Zahl, als man sie aus West- und Mitteleuropa kennt.
Landesweit gibt es rund 18.000 Polizeibehörden, die weitgehend unabhängig operieren, von den städtischen Police Departments bis hin zu kleineren Sheriff-Büros auf dem Land. Wer sich den Sheriffstern an eine Uniform heften will, muss sich zumeist dem Wähler stellen. In der jüngeren Vergangenheit fuhren Kandidaten für lokale Wahlämter fast immer gut mit dem Versprechen, die Zahl der Polizisten aufzustocken und keinesfalls abzubauen. Auch das, der lokale Aspekt, macht es heute so schwer, den Trend umzukehren. Selbst wenn die Bundesregierung in Washington zu Reformen rät, wie es das anfangs überaus vorsichtige Kabinett Barack Obamas nach den Unruhen in Ferguson, Missouri, im Sommer 2014 tat, heißt das nicht, dass sie vor Ort auch umgesetzt werden.
Hinzu kommt die Macht einflussreicher Polizeigewerkschaften, mit denen sich die Lokalpolitik nur ungern anlegte. Die Rechtsanwältin Corrine Irish, die nach den Ausschreitungen in Ferguson festgenommene Reporter vertrat, schildert es anhand des Falles von Daniel Pantaleo, eines New Yorker Polizisten, in dessen Würgegriff der Afroamerikaner Eric Garner starb. Nach der Tat vergingen fünf Jahre, bis das Arbeitsverhältnis mit Pantaleo beendet wurde.
„Die Gewerkschaft der Polizei“, sagt Irish, „schützt jeden in ihren Reihen, egal ob es sich um gute oder schlechte Polizisten handelt. Und das macht es so schwer, die schlechten in die Schranken zu weisen.“
Als Derek Chauvin in Minneapolis dem gefesselt am Boden liegenden George Floyd das Knie in den Nacken drückte, bis der keine Luft mehr bekam, fiel auf, dass er, eine Hand in der Hosentasche, direkt in die Kamera des Handys blickte, dessen Besitzerin die Szene filmte. Nicht die Spur von Nervosität war ihm anzumerken.
So benehme sich einer, glaubt die Soziologin Nicole Gonzalez Van Cleve, der wisse, dass ihm keine Konsequenzen drohen. Unter massivem Druck der Öffentlichkeit hat die Staatsanwaltschaft schließlich doch Klage gegen Chauvin eingereicht. Es war, bislang jedenfalls, der seltene Ausnahmefall.