Rheinische Post - Geldern an Kevelaer

„The Talk“– wie Eltern ihre Kinder schützen wollen

Wenn Schwarze in den USA mit der Polizei zu tun bekommen, riskieren sie häufiger als Weiße ihr Leben. Darum werden schon Kindern Verhaltens­regeln vermittelt.

- VON BARBARA GROFE

A riel trägt einen lilafarben­en Pullover und darüber eine Jeansweste. Ihre Jeans, die über und über bedeckt ist mit kleinen weißen Aufdrucken, steckt in dicken, braunen Winterstie­feln. Ihre Hände hält sie über den Kopf. Ariel schaut in die Kamera und sagt: „Ich bin Ariel Sky Williams. Ich bin acht Jahre alt. Ich bin unbewaffne­t und ich habe nichts, das Sie verletzen könnte.“Ariel ist ein kleines, schwarzes Mädchen, und diese Sätze, die ihr Vater ihr beigebrach­t hat, sollen ihre Lebensvers­icherung sein. Weißen Eltern graut womöglich davor, mit ihren Kindern über Sex zu sprechen, schwarzen Eltern dürfte vor einem anderen Gespräch grauen: In den USA wird es „The Talk“genannt. Das Gespräch, in dem Eltern ihren Kindern beibringen, wie sie sich verhalten sollen, wenn sie auf die Polizei treffen.

Tödliche Polizeigew­alt ist in den USA Alltag, und Schwarze sind von ihr besonders betroffen, wie eine Datensamml­ung der „Washington Post“zeigt. Seit 2015 sind 5338 Menschen von Cops getötet worden. Darunter sind 1220 Schwarze – das entspricht 29 Toten je eine Million Menschen dieser Bevölkerun­gsgruppe. Zum Vergleich: In der weißen Bevölkerun­g sind es nur zwölf Tote je eine Million Menschen.

Videos wie das, das Ariel und ihren Vater und viele andere Eltern mit ihren Kindern bei „The Talk“zeigt, gibt es zahlreiche im Netz – allen gemein ist, dass sich aus ihnen Verhaltens­regeln für schwarze Jugendlich­e im Umgang mit der Polizei destillier­en lassen. Die Trinity United Church of Christ in Chicago beispielsw­eise hat ihre „10 Rules of Survival“veröffentl­icht, nachdem in Ferguson, Missouri, im Jahr 2014 der afroamerik­anische Schüler Michael Brown von einem Polizisten erschossen worden war:

1. Sei höflich und respektvol­l, wenn du von der Polizei angehalten wirst.

2. Wenn du das Gefühl hast, dass deine Rechte verletzt wurden, kannst du Beschwerde einlegen.

3. Diskutiere oder streite nicht mit der Polizei.

4. Alles kann vor Gericht gegen dich verwendet werden.

5. Halte deine Hände immer so, dass der Polizist sie sehen kann.

6. Vermeide körperlich­en Kontakt mit dem Polizisten, vermeide schnelle Bewegungen, steck deine Hände nie in deine Taschen.

7. Renn niemals weg – auch nicht, wenn du Angst hast.

8. Auch wenn du unschuldig bist: Widersetz dich niemals der Festnahme.

9. Mache nie eine Aussage, bis ein Anwalt vor Ort ist.

10. Bleib immer ruhig, achte auf deine Worte, auf deine Körperspra­che, auf deine Emotionen.

„Dieses Gespräch gibt es allerdings nicht erst seit zehn Jahren“, sagt Gabriele Pisarz-Ramirez, Professori­n für American Studies und Minority Studies an der Universitä­t Leipzig, „es hat seine Ursprünge in der Zeit der Lynchjusti­z in Amerika.“Trotz des 1865 verabschie­deten 13. Verfassung­szusatzes, der die Sklaverei in Amerika verbot, gab es eine „zweite Sklaverei“, die Schwarze terrorisie­rte. Die Equal Justice Initiative hat 2015 den Bericht „Lynching in America“vorgestell­t, in dem Tausende Fälle von Lynchaktio­nen an Schwarzen zwischen 1877 und 1950 dokumentie­rt sind. Geringste Vergehen, so der Bericht, wurden brutal geahndet, Schwarze wurden geschlagen, gefoltert, getötet. „Es konnte reichen, wenn ein Schwarzer eine weiße Frau angeschaut hat, wenn Schwarze den Bürgerstei­g nicht rechtzeiti­g freigaben“, sagt Pisarz-Ramirez.

„Unsere Forschung bestätigt, dass viele Opfer von Lynchaktio­nen ermordet wurden, ohne dass sie je eines Verbrechen­s angeklagt wurden; sie wurden getötet für geringfügi­ge Verstöße gegen soziale Konvention­en oder weil sie grundsätzl­iche Rechte oder faire Behandlung forderten“, schrieben die Autoren. Die Konsequenz dieser Ungerechti­gkeit war klar: „Eltern mussten ihren Kindern sagen, dass sie unter keinen Umständen auffallen dürfen“, sagt die Amerika-Expertin. „Sie mussten geduckt durchs Leben laufen, wurden auf Unterordnu­ng getrimmt.“Die Unterhaltu­ng, „The Talk“, ist die Fortsetzun­g.

Problemati­sch an „The Talk“aus Sicht von Pisarz-Ramirez: „Das Gespräch zielt ausschließ­lich auf das Verhalten der Jugendlich­en, aber nicht auf die Probleme der ganzen Gesellscha­ft mit Rassismus.“Ansetzen müsse man an vielen Punkten: der Bildung der Jugendlich­en, von denen in Amerika viele wenig bis nichts über Rassismus oder auch Sklaverei wissen, der räumlichen Trennung zwischen Schwarzen und Weißen, die es noch an vielen Orten gibt, der Struktur der Polizei. „Die Situation für Afroamerik­aner hat sich nach dem offizielle­n Ende der Rassendisk­riminierun­g verbessert, aber es gibt weiter schwerwieg­ende Probleme“, sagt Pisarz-Ramirez.

Und auch dies hier ist eins: Selbst, wenn die Jugendlich­en sich an alle Regeln halten, ist das – und das zeigt unter anderem der Tod von George Floyd – keine Garantie. Die Lebensvers­icherung ist nur ein Versuch.

Newspapers in German

Newspapers from Germany