Rheinische Post - Geldern an Kevelaer
„The Talk“– wie Eltern ihre Kinder schützen wollen
Wenn Schwarze in den USA mit der Polizei zu tun bekommen, riskieren sie häufiger als Weiße ihr Leben. Darum werden schon Kindern Verhaltensregeln vermittelt.
A riel trägt einen lilafarbenen Pullover und darüber eine Jeansweste. Ihre Jeans, die über und über bedeckt ist mit kleinen weißen Aufdrucken, steckt in dicken, braunen Winterstiefeln. Ihre Hände hält sie über den Kopf. Ariel schaut in die Kamera und sagt: „Ich bin Ariel Sky Williams. Ich bin acht Jahre alt. Ich bin unbewaffnet und ich habe nichts, das Sie verletzen könnte.“Ariel ist ein kleines, schwarzes Mädchen, und diese Sätze, die ihr Vater ihr beigebracht hat, sollen ihre Lebensversicherung sein. Weißen Eltern graut womöglich davor, mit ihren Kindern über Sex zu sprechen, schwarzen Eltern dürfte vor einem anderen Gespräch grauen: In den USA wird es „The Talk“genannt. Das Gespräch, in dem Eltern ihren Kindern beibringen, wie sie sich verhalten sollen, wenn sie auf die Polizei treffen.
Tödliche Polizeigewalt ist in den USA Alltag, und Schwarze sind von ihr besonders betroffen, wie eine Datensammlung der „Washington Post“zeigt. Seit 2015 sind 5338 Menschen von Cops getötet worden. Darunter sind 1220 Schwarze – das entspricht 29 Toten je eine Million Menschen dieser Bevölkerungsgruppe. Zum Vergleich: In der weißen Bevölkerung sind es nur zwölf Tote je eine Million Menschen.
Videos wie das, das Ariel und ihren Vater und viele andere Eltern mit ihren Kindern bei „The Talk“zeigt, gibt es zahlreiche im Netz – allen gemein ist, dass sich aus ihnen Verhaltensregeln für schwarze Jugendliche im Umgang mit der Polizei destillieren lassen. Die Trinity United Church of Christ in Chicago beispielsweise hat ihre „10 Rules of Survival“veröffentlicht, nachdem in Ferguson, Missouri, im Jahr 2014 der afroamerikanische Schüler Michael Brown von einem Polizisten erschossen worden war:
1. Sei höflich und respektvoll, wenn du von der Polizei angehalten wirst.
2. Wenn du das Gefühl hast, dass deine Rechte verletzt wurden, kannst du Beschwerde einlegen.
3. Diskutiere oder streite nicht mit der Polizei.
4. Alles kann vor Gericht gegen dich verwendet werden.
5. Halte deine Hände immer so, dass der Polizist sie sehen kann.
6. Vermeide körperlichen Kontakt mit dem Polizisten, vermeide schnelle Bewegungen, steck deine Hände nie in deine Taschen.
7. Renn niemals weg – auch nicht, wenn du Angst hast.
8. Auch wenn du unschuldig bist: Widersetz dich niemals der Festnahme.
9. Mache nie eine Aussage, bis ein Anwalt vor Ort ist.
10. Bleib immer ruhig, achte auf deine Worte, auf deine Körpersprache, auf deine Emotionen.
„Dieses Gespräch gibt es allerdings nicht erst seit zehn Jahren“, sagt Gabriele Pisarz-Ramirez, Professorin für American Studies und Minority Studies an der Universität Leipzig, „es hat seine Ursprünge in der Zeit der Lynchjustiz in Amerika.“Trotz des 1865 verabschiedeten 13. Verfassungszusatzes, der die Sklaverei in Amerika verbot, gab es eine „zweite Sklaverei“, die Schwarze terrorisierte. Die Equal Justice Initiative hat 2015 den Bericht „Lynching in America“vorgestellt, in dem Tausende Fälle von Lynchaktionen an Schwarzen zwischen 1877 und 1950 dokumentiert sind. Geringste Vergehen, so der Bericht, wurden brutal geahndet, Schwarze wurden geschlagen, gefoltert, getötet. „Es konnte reichen, wenn ein Schwarzer eine weiße Frau angeschaut hat, wenn Schwarze den Bürgersteig nicht rechtzeitig freigaben“, sagt Pisarz-Ramirez.
„Unsere Forschung bestätigt, dass viele Opfer von Lynchaktionen ermordet wurden, ohne dass sie je eines Verbrechens angeklagt wurden; sie wurden getötet für geringfügige Verstöße gegen soziale Konventionen oder weil sie grundsätzliche Rechte oder faire Behandlung forderten“, schrieben die Autoren. Die Konsequenz dieser Ungerechtigkeit war klar: „Eltern mussten ihren Kindern sagen, dass sie unter keinen Umständen auffallen dürfen“, sagt die Amerika-Expertin. „Sie mussten geduckt durchs Leben laufen, wurden auf Unterordnung getrimmt.“Die Unterhaltung, „The Talk“, ist die Fortsetzung.
Problematisch an „The Talk“aus Sicht von Pisarz-Ramirez: „Das Gespräch zielt ausschließlich auf das Verhalten der Jugendlichen, aber nicht auf die Probleme der ganzen Gesellschaft mit Rassismus.“Ansetzen müsse man an vielen Punkten: der Bildung der Jugendlichen, von denen in Amerika viele wenig bis nichts über Rassismus oder auch Sklaverei wissen, der räumlichen Trennung zwischen Schwarzen und Weißen, die es noch an vielen Orten gibt, der Struktur der Polizei. „Die Situation für Afroamerikaner hat sich nach dem offiziellen Ende der Rassendiskriminierung verbessert, aber es gibt weiter schwerwiegende Probleme“, sagt Pisarz-Ramirez.
Und auch dies hier ist eins: Selbst, wenn die Jugendlichen sich an alle Regeln halten, ist das – und das zeigt unter anderem der Tod von George Floyd – keine Garantie. Die Lebensversicherung ist nur ein Versuch.