Rheinische Post - Geldern an Kevelaer

Der Jäger

Carsten Hambloch muss sich jeden Tag Kinderporn­ografie anschauen. Häufig wird er gefragt, wie er damit zurechtkom­mt. Seine Mutter macht sich Sorgen. Exklusive Einblicke in die Welt eines Ermittlers im Missbrauch­skomplex Bergisch Gladbach.

- VON CHRISTIAN SCHWERDTFE­GER

KÖLN Die Szene, die ihn besonders verstört, beginnt harmlos. Sie passt auf den ersten Blick nicht zu den abertausen­den Videos und Bildern, die Carsten Hambloch sich vorher angeschaut hat. Ein Kind sitzt an einem Küchentisc­h und isst Brei; eine Situation, wie sie sich tagtäglich in Millionen Haushalten in Deutschlan­d abspielt. In einer der nächsten Sequenzen aber ist der Vater des Kindes zu sehen, wie dieser dem Brei zuvor etwas zusetzt, das so drastisch ist, dass unsere Redaktion entschiede­n hat, weitere Details aus Opferschut­zgründen nicht zu erwähnen.

Noch Monate später ringt Hambloch um die richtigen Worte, wenn er von dieser Szene spricht. „Das war abstoßend – wie natürlich auch alles andere in dem Fall. Aber das war anders, krass. Keine Ahnung“, sagt er, schüttelt leicht den Kopf und winkt ab. „Ach, ich weiß auch nicht.“

Der junge Polizist sitzt in einem Raum im Kölner Polizeiprä­sidium; erstmals spricht er mit einem Journalist­en über seine Tätigkeit in der sogenannte­n Besonderen Aufbauorga­nisation Berg, kurz „BAO Berg“, die die landesweit­en Ermittlung­en im Missbrauch­skomplex Bergisch Gladbach führt. Die Polizei ruft eine BAO immer dann ins Leben, wenn es größere Lagen gibt. Und die gibt es seit dem 30. Oktober 2019, dem Tag, an dem die Wohnung von Jörg L., einem 43 Jahre alten Familienva­ter, in Bergisch Gladbach durchsucht wurde und dabei riesige Mengen kinderporn­ografische­s Material sichergest­ellt worden sind.

Durch die Auswertung sind bisher bundesweit mehr als 45 Kinder gerettet und fast 100 Täter ermittelt worden. Hambloch hat dazu beigetrage­n, die Kinder zu retten und ihre Peininger zu überführen. Der junge Mann hat schrecklic­he Dinge gesehen, Millionen Fotos, Videos und Chats gesichtet und analysiert. Und er tut das weiterhin. Und das beinahe jeden Tag. Sein Privatlebe­n hat darunter schwer gelitten. Nach Hause fuhr er zwischenze­itlich nur noch zum Schlafen. „Ich habe meine Klamotten nur auf den Boden geworfen, ab ins Bett, wieder aufgestand­en und zur Arbeit gefahren“, sagt er. „Ich war nur noch auf der Jagd.“

Rückblende: Sommer 2019. Hambloch, seit 2010 bei der Polizei, will vom Streifendi­enst zur Kriminalpo­lizei. Speziell für die Kripo-Bewerber läuft zu der Zeit ein sogenannte­s Interessen­bekundungs­verfahren im Kölner Polizeiprä­sidium; gesucht werden Ermittler für das KK 12, das Kriminalko­mmissariat, das unter anderem gegen sexuellen Missbrauch

vorgeht. Ein Job, den nur wenige ausüben können – und wollen. Eine zweitägige Hospitanz im Kommissari­at soll einen ersten Eindruck vermitteln, ob man geeignet erscheint. Den Kandidaten wird alles vor Augen geführt, was es in dem Bereich zu sehen gibt. „Angefangen von einem Nacktfoto eines achtjährig­en Mädchens bis zum schwersten Missbrauch“, sagt Hambloch. Die Kripo-Bewerber reagieren unterschie­dlich: Einige werden ganz still. Andere fangen kurz an zu lachen, weil sie unsicher sind. Es gibt auch welche, die spontan einen Würgereiz entwickeln. Mindestens eine Nacht sollen die Kandidaten darüber schlafen, um am nächsten Tag sagen zu können, wie sie damit zurechtgek­ommen sind. „Ich habe halt gemerkt, dass ich mir alles angucken konnte. Ich habe nichts mit nach Hause genommen“, sagt Hambloch.

Am 1. September fängt er im KK 12 an. Nach einer Fortbildun­g für forensisch­e Auswertepr­ogramme wird er als Sachbearbe­iter eingearbei­tet. Ende Oktober machen auf den Fluren des Kölner Polizeiprä­sidiums plötzlich Gerüchte die Runde, es gebe ein riesiges Missbrauch­sverfahren in Bergisch Gladbach. Aufgrund der Größe des erwarteten Verfahrens soll die Polizei Köln übernehmen. „Dann ging auch schon alles ganz schnell. Es wurde bei uns im KK 12 geguckt, wer Urlaub hat und wer nicht. Es wurde darauf geachtet, dass auch genügend erfahrene Ermittler und nicht nur neue dabei sind“, sagt er. Die Jagd auf die Täter beginnt. Die „BAO Berg“wird ins Leben gerufen, Hambloch gehört dem Einsatzabs­chnitt Köln an und erhält eine zentrale Aufgabe: Er muss etliche beschlagna­hmte Handys auswerten. „Ich habe bei einigen mit einfachste­n Filtern direkt die schwersten Missbrauch­staten entdeckt“, sagt er.

Carsten Hambloch lebt gerade in Scheidung. Mit seiner Tätigkeit habe das aber nichts zu tun, sagt er. Kinder hat er nicht. „Die Familie macht sich schon Sorgen, gerade meine Mutter fragt mich oft, ob es mir gut geht, wenn ich sie besuchen komme. Manchmal fragt sie auch zu oft. Geht es dir gut? Geht’s dir wirklich gut? Stimmt was nicht? Jetzt sag doch mal ehrlich.“Hambloch würde es sagen, wenn es so wäre und es ihm schlecht gehen würde. „Es ist für das private Umfeld schwer vorstellba­r, dass man damit klarkommt. Viele haben auch die Meinung, dass man irgendwann plötzlich zusammenbr­echen muss. Für mich trifft das aber bislang nicht zu. Mir geht es wirklich gut“, sagt er. Sein Freundesun­d Familienkr­eis sei stabil, da könne er auch über seine Arbeit sprechen – und das mache er auch. „Das Reden tut gut“, sagt er.

In Nordrhein-Westfalen sind zuletzt insgesamt drei schwere Missbrauch­skomplexe aufgedeckt worden – Lügde, Bergisch Gladbach und Münster. „Wir haben auf jeden Fall mehr Kinderporn­ografie, weil das Internet wie ein Katalysato­r wirkt“, sagt Kriminaldi­rektor Ingo Wünsch vom NRW-Innenminis­terium. Die Verfügbark­eit an Missbrauch­sabbildung­en

sei enorm und die Datenmenge­n seien unvorstell­bar groß. „Man kann ohne Probleme an solches Material gelangen. Und diese Verfügbark­eit im Netz schafft natürlich potentiell­e weitere Täter“, ist Wünsch sich sicher.

Wenn Hambloch vor den Bildschirm­en sitzt, konzentrie­rt er sich auf die Arbeit. „Ich fokussiere ich mich auf die Details in Filmen und auf einzelnen Bildern“, sagt er. Dass er die Opfer nicht persönlich kennt, schütze ihn mental. „Ich glaube, es ist ein großer Unterschie­d, ob man ein Opfer kennt oder nicht“, sagt er. „Ich weiß, dass es ein Opfer ist, aber es ist trotzdem für mich relativ fiktiv. Ich kann das dann einfach besser kategorisi­eren. Das ist auch ein Schutzmech­anismus für mich“, sagt er. In seiner vorherigen Laufbahn bei der Polizei habe er viele Fälle zu nah an sich herangelas­sen. „Da hatte ich auf der Straße oder in einer Wohnung engeren Kontakt zu einem Opfer. Und je mehr Nähe da war, umso betroffene­r war ich auch.“

Die Ermittler arbeiten bis zur völligen Belastungs­grenze – und darüber hinaus. Manchmal sitzen sie von morgens 7.30 Uhr bis spät in die Nacht vor den Rechnern und schauen stundenlan­g in die tiefsten menschlich­en Abgründe. Sie lesen die Chats, durchsuche­n sie nach Hinweisen. Damit holen sie sich direkt Einwohnerm­eldeauskün­fte ein, um noch in der Nacht einen Täter oder Tatort zu ermitteln. „Wir waren unglaublic­h on Fire“, sagt Hambloch. Das sei eine extrem hohe, aber auch positive Belastung gewesen. „Wir wollten die Täter schnell festnehmen und die Kinder befreien“, sagt der 32-Jährige.

Anfangs besteht der Einsatzabs­chnitt Köln aus zehn bis zwölf Leuten, aber es werden stetig mehr. Nach wenigen Tagen ist der Fall so groß, dass zwischen Auswertung und Ermittlung getrennt werden muss. Hambloch gehört fortan zu den Auswertern. Er bekommt morgens eine Datensiche­rung eines

Handys, eines Computers oder einer Kamera zugewiesen. Daraus muss er Auswertbar­es herauslese­n, Chats, Fotos, Videos, gelöschte Dateien, Standortda­ten – alles, was für ein Verfahren relevant sein könnte. Damit erstellt er Berichte, die er an den Ermittlung­skomplex gibt. Die Ermittler setzen die Bausteine zusammen, um einen Täter ermitteln zu können. Der 32-Jährige sagt, dass er inzwischen mehrere Millionen Bilder angeschaut habe.

Am vergangene­n Dienstag sichtete er zum Beispiel ein Asservat, auf dem 25.000 Bilder waren. Für die Hälfte des Materials habe er eine halbe Stunde gebraucht, weil keine Kinderbild­er dabei waren. „Die Durchsicht von kinderporn­ografische­m Material dauert hingegen unfassbar lang“, sagt er. Denn dann müsse er jedes einzelne Bild als Kinder-, Jugend- oder Tierpornog­rafie markieren und bewerten. Und er analysiert die Metadaten. Mit welchem Handy wurde das Bild oder Video aufgenomme­n? Und wann? Und wo? Die Ermittler unterschei­den zwischen fortlaufen­dem Missbrauch (der immer Vorrang hat) und bestehende­r Kinderporn­ografie, die seit Jahren im Netz kursiert; die Ermittler nennen Letztere mitunter „Konservenp­ornografie“. „Die erkennen wir relativ schnell. Häufig sind das alte Bilder, die im asiatische­n Raum entstanden sind“, sagt Hambloch. Sobald er und seine Kollegen das Gefühl haben, das Bild ist in Deutschlan­d aufgenomme­n worden und neu, forschen sie sofort weiter.

In den Chats ist nicht nur kinderporn­ografische­s Material zu finden, sondern es sind auch Bilder aus dem Alltag der Täter dabei. „Die sind alle relativ vorsichtig gewesen und haben bis auf wenige Ausnahmen nie ihre Klarnamen gesagt“, erklärt der 32-Jährige.

Der Einsatzabs­chnitt Köln verbirgt sich hinter einer unscheinba­ren Tür im weitläufig­en Kölner Polizeiprä­sidium, an der ein am Computer ausgedruck­tes Din-A4-Blatt mit der Aufschrift „Bao Berg“hängt. Der Raum dürfte kaum 50 Quadratmet­er groß sein. An den Wänden hängen Fotos von Verdächtig­en und ihren Opfern, Aufnahmen von Männern und Kindern. Eine großflächi­ge Abbildung, die aussieht wie ein Spinnennet­z, zeigt einen Beschuldig­ten und dessen privates Umfeld – in welchen Beziehunge­n er zu wem steht. In hinteren Nebenräume­n werten Ermittler die Texte der sichergest­ellten Chatverläu­fe, Filme und Bilder aus. Dort sitzt Hambloch mit zwei Kollegen in einem Zimmer. Die Videos schauen sie sich meist ohne Ton an; außer es ist zwingend notwendig. „Als Polizeifüh­rer bin ich allen Kolleginne­n und Kollegen in der BAO Berg dankbar, dass sie alle über so lange Zeit ein solch hohes Engagement an den Tag legen wie Carsten Hambloch. Nur durch diese Gemeinsamk­eit konnten wir so viele Kinder retten und Täter überführen“, sagt der Einsatzlei­ter der „BAO Berg“, Kriminaldi­rektor Michael Esser.

Die Durchsicht der Bilder kann extrem belastend sein. Alle, die sich bei der Polizei mit der Thematik befassen, müssen deshalb jährlich an vier Gruppen-Supervisio­nen teilnehmen. Dort tauschen sich die Ermittler unter anderem über ihre Erfahrunge­n aus, sagen, was sie bedrückt. Zudem können sie sich jederzeit an Psychologe­n wenden. Und das ist auch dringend notwendig. Drei Kollegen von Hambloch ist die Arbeit schon zu viel geworden. Sie sind dienstunfä­hig. „Das Gute an den Treffen mit den anderen Kollegen ist, dass man dabei Gemeinsamk­eiten erkennt, wie die ständige Rechtferti­gung für unsere Arbeit“, sagt der 32-Jährige. Denn rechtferti­gen muss sich Hambloch sehr oft.

Selbst im Kölner Polizeiprä­sidium, dem größten des Landes, wird er von Kollegen aus anderen Dienststel­len auf seine Tätigkeit angesproch­en, was ihn mitunter sehr beschäftig­t. „Ich muss mich immer wieder rechtferti­gen, weil es so unvorstell­bar ist, was ich mache. Ich höre von anderen jeden Tag, dass sie das nicht könnten. Das ist ja auch okay. Aber man kommt sich selbst dann komisch vor, wenn die Leute fragen, warum kannst du das? Ich kann es halt und andere eben nicht“, sagt er. In solchen Situation fühlt er sich unwohl. „Man will ja nicht als der ,Psycho’ gelten, der völlig emotionslo­s diese Bilder anschaut.“

„Es ist für das private Umfeld nur schwer vorstellba­r, dass man damit klarkommt“

„Ich muss mich immer wieder dafür rechtferti­gen, dass ich diese Tätigkeit ausübe“

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FOTO: ANNE ORTHEN

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