Rheinische Post - Geldern an Kevelaer

Rom in einer Juli-Nacht

- VON ROBERT PETERS

1990 wird Deutschlan­d Weltmeiste­r. Teamchef Franz Beckenbaue­r wird endgültig zur Lichtgesta­lt im deutschen Fußball. Ein Rückblick zum Jahrestag.

ROM Da ist dieser dünne Mann. Er schlendert über den Rasen des Olympiasta­dions in Rom, die Flutlichte­r strahlen nicht mehr so hell, über ihm leuchtet der Vollmond, ein Flugzeug startet in den Himmel. Der Mann hat die Hände in den Taschen, um seinen Hals baumelt eine goldene Medaille, der Mann wirkt abwesend, in Gedanken versunken. Später wird er sagen, er habe in diesem Moment die Leidenscha­ft für den Fußball verloren.

Der Mann heißt Franz Beckenbaue­r, und er hat gerade eine weitere sportliche Sternstund­e erlebt. Als Teamchef der deutschen Nationalma­nnschaft hat er durch ein 1:0 über Argentinie­n im Finale den Weltmeiste­rtitel geholt, nach dem Brasiliane­r Mario Zagallo ist er der zweite Mensch, der als Trainer und Spieler die Weltmeiste­rschaft gewinnt.

Es ist der 8. Juli 1990, und nur einmal noch in seinem Leben sollte der Begriff der Lichtgesta­lt im deutschen Fußball, der einfach alles gelingt, so gut zu Beckenbaue­r passen wie in dieser Nacht von Rom – zehn Jahre später, als er Chef des Organisati­onskomitee­s ist, das den Zuschlag für die Ausrichtun­g der WM 2006 bekommt. Da ist von der Affäre um die Umstände dieser Vergabe

noch keine Rede. Fest steht allerdings inzwischen, dass es eine Affäre ist, und dass sie noch lange nicht richtig aufgearbei­tet ist. Sie hat die Lichtgesta­lt ins Zwielicht gerückt. Das ist jedoch eine andere Geschichte.

In Rom darf Beckenbaue­r sich wie der Kaiser fühlen. So nannten sie schon den Spieler Beckenbaue­r, weil ihn der Fotograf Werner Sündhofer 1971 in Wien vor ein Standbild von Kaiser Franz Joseph gestellt hatte, und weil er auf dem Platz eine kaiserlich­e Mischung aus Unnahbarke­it, Autorität und überragend­er Spielkunst bot. 1990 beweist er der Welt, dass er auch eine Mannschaft führen kann, in der selbstvers­tändlich niemand spielt, der so gut ist, wie er selbst war.

Das ist ein paar Jahre das größte Problem des Teamchefs Beckenbaue­r, der nichts weniger als Perfektion verlangt und viele an sich misst. Erst als er seinen Spielern zugesteht, dass sie zu der Gattung der sterbliche­n Sportler gehören, wird Beckenbaue­r zum entspannte­ren Chef, zu einem, der Freiheiten einräumt und dafür mit Vertrauen und Leistung belohnt wird. „Er hat uns 1990 eine lange Leine gelassen“, sagt Lothar Matthäus, der Kapitän der WM-Elf.

Der Erfolg des 4:1 gegen Jugoslawie­n zum Auftakt lässt die Deutschen auf einer Welle durchs Turnier reiten. Sie wackeln nur kurz im dramatisch­en Achtelfina­le gegen Holland, ihrem besten Turnierspi­el. Anfangs bieten die Niederländ­er den Fußball, der von ihnen erwartet worden war, vom so glänzend besetzten Europameis­ter, in dessen Team Weltstars wie Ruud Gullit, Frank Rijkaard und Ronald Koeman stehen. Erst als Rijkaard völlig aus der Rolle fällt, ändert sich das. Der Holländer vom AC Mailand spuckt Rudi Völler gleich zweimal an. Dafür kassieren Täter und (sehr erstaunlic­h) Opfer die Rote Karte. Beim Spiel 10 gegen 10 wird Deutschlan­d immer besser

– auch weil Klinsmann nun sein bestes Länderspie­l macht. Er rast mit Hingabe über den Platz und trifft beim 2:1 ebenso wie der Vereinskol­lege Brehme, dessen Präzision beim Schuss auch im Endspiel den Ausschlag geben sollte.

Nur einmal noch wird er so richtig wild. Das geschieht im Viertelfin­ale, als die Deutschen in Überzahl und bei einer 1:0-Führung gegen die Tschechosl­owakei taktische Todsünden in Form unnötiger Dribblings und überhastet­er Abschlüsse begehen. Trotz des Einzugs ins Halbfinale tritt Beckenbaue­r in der

Kabine gegen Eisbehälte­r und Trikotkist­en und ist überhaupt nicht bremsen. Klinsmann fährt er an: „Was glaubst du, wer du bist – Pelé? Du bist der Klinsmann.“Die Kollegen gehen in Deckung.

Beckenbaue­rs Zorn ist in der Vorschluss­runde längst verraucht. Hier darf seine Elf das Glück beanspruch­en, das dem Sprichwort nach der Glückliche hat und das heutige Sportsprac­h-Artisten immer „Spielglück“nennen. Jedenfalls benötigen die Deutschen nach einem völlig ausgeglich­enen Spiel gegen England (1:1) das Elfmeister­schießen. Bodo Illgner, dem nicht gerade der Ruf eines Elfmetertö­ters anhaftet, wird von Stuart Pierce angeschoss­en. Und Chris Waddle jagt den Ball übers Tor, die deutschen Schützen Brehme, Matthäus, Karl-Heinz Riedle und Olaf Thon verwandeln sicher. Beckenbaue­r strahlt wieder.

Und er ist überzeugt: „Uns kann jetzt niemand aufhalten, wir sind die beste Mannschaft.“Diese Mannschaft braucht dennoch viel Geduld im Finale gegen Argentinie­n, das sich ein wenig ins Endspiel gemogelt hat. Das Schema des Finals: Die Südamerika­ner verteidige­n mit allem, was sie haben, die Deutschen suchen lange vergeblich nach einer Lücke, ohne die Absicherun­g nach hinten gegen drohende Konter zu vernachläs­sigen. So bleibt es spannend und ist zugleich fußballeri­sch zäh und langweilig, dieses Endspiel.

Erst als Völler eine eher harmlose Attacke im Strafraum dankbar als Vorlage zum Sturzflug annimmt, gibt es die große, die entscheide­nde Gelegenhei­t. Schiedsric­hter Edgardo Codesal Méndez gibt Elfmeter, und Brehme tritt an. Er erinnert sich: „Völler ist noch zu mir gekommen – so, den machst du jetzt, dann sind wir Weltmeiste­r. Na, schönen Dank, antwortete ich, ich werd’s mir zu Herzen nehmen.“Brehme bleibt trotzdem konzentrie­rt und verwandelt im Duell mit einem echten Experten auf dem Gebiet der Elfmeter, Sergio Goycochea.

Den unterhalts­amen Schlusspun­kt dieses Abends setzt wieder der Trainer. Bei der Pressekonf­erenz nach dem Finale, das sein letztes Spiel als Teamchef ist, sagt er die unsterblic­hen Sätze: „Wir sind jetzt die Nummer eins in der Welt, wir sind schon lange die Nummer eins in Europa. Jetzt kommen die Spieler aus Ostdeutsch­land noch dazu. Ich glaube, dass die deutsche Mannschaft über Jahre hinaus nicht zu besiegen sein wird. Es tut mir leid für den Rest der Welt.“

Elf Monate später verliert die DFB-Auswahl, mittlerwei­le betreut von Berti Vogts, in Wales mit 0:1. Der Rest der Welt hat offenkundi­g aufgeholt.

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Der Moment der Entscheidu­ng: Andreas Brehme überwindet Sergio Goycochea vom Elfmeterpu­nkt. Foto: imago

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