Rheinische Post - Geldern an Kevelaer
Rom in einer Juli-Nacht
1990 wird Deutschland Weltmeister. Teamchef Franz Beckenbauer wird endgültig zur Lichtgestalt im deutschen Fußball. Ein Rückblick zum Jahrestag.
ROM Da ist dieser dünne Mann. Er schlendert über den Rasen des Olympiastadions in Rom, die Flutlichter strahlen nicht mehr so hell, über ihm leuchtet der Vollmond, ein Flugzeug startet in den Himmel. Der Mann hat die Hände in den Taschen, um seinen Hals baumelt eine goldene Medaille, der Mann wirkt abwesend, in Gedanken versunken. Später wird er sagen, er habe in diesem Moment die Leidenschaft für den Fußball verloren.
Der Mann heißt Franz Beckenbauer, und er hat gerade eine weitere sportliche Sternstunde erlebt. Als Teamchef der deutschen Nationalmannschaft hat er durch ein 1:0 über Argentinien im Finale den Weltmeistertitel geholt, nach dem Brasilianer Mario Zagallo ist er der zweite Mensch, der als Trainer und Spieler die Weltmeisterschaft gewinnt.
Es ist der 8. Juli 1990, und nur einmal noch in seinem Leben sollte der Begriff der Lichtgestalt im deutschen Fußball, der einfach alles gelingt, so gut zu Beckenbauer passen wie in dieser Nacht von Rom – zehn Jahre später, als er Chef des Organisationskomitees ist, das den Zuschlag für die Ausrichtung der WM 2006 bekommt. Da ist von der Affäre um die Umstände dieser Vergabe
noch keine Rede. Fest steht allerdings inzwischen, dass es eine Affäre ist, und dass sie noch lange nicht richtig aufgearbeitet ist. Sie hat die Lichtgestalt ins Zwielicht gerückt. Das ist jedoch eine andere Geschichte.
In Rom darf Beckenbauer sich wie der Kaiser fühlen. So nannten sie schon den Spieler Beckenbauer, weil ihn der Fotograf Werner Sündhofer 1971 in Wien vor ein Standbild von Kaiser Franz Joseph gestellt hatte, und weil er auf dem Platz eine kaiserliche Mischung aus Unnahbarkeit, Autorität und überragender Spielkunst bot. 1990 beweist er der Welt, dass er auch eine Mannschaft führen kann, in der selbstverständlich niemand spielt, der so gut ist, wie er selbst war.
Das ist ein paar Jahre das größte Problem des Teamchefs Beckenbauer, der nichts weniger als Perfektion verlangt und viele an sich misst. Erst als er seinen Spielern zugesteht, dass sie zu der Gattung der sterblichen Sportler gehören, wird Beckenbauer zum entspannteren Chef, zu einem, der Freiheiten einräumt und dafür mit Vertrauen und Leistung belohnt wird. „Er hat uns 1990 eine lange Leine gelassen“, sagt Lothar Matthäus, der Kapitän der WM-Elf.
Der Erfolg des 4:1 gegen Jugoslawien zum Auftakt lässt die Deutschen auf einer Welle durchs Turnier reiten. Sie wackeln nur kurz im dramatischen Achtelfinale gegen Holland, ihrem besten Turnierspiel. Anfangs bieten die Niederländer den Fußball, der von ihnen erwartet worden war, vom so glänzend besetzten Europameister, in dessen Team Weltstars wie Ruud Gullit, Frank Rijkaard und Ronald Koeman stehen. Erst als Rijkaard völlig aus der Rolle fällt, ändert sich das. Der Holländer vom AC Mailand spuckt Rudi Völler gleich zweimal an. Dafür kassieren Täter und (sehr erstaunlich) Opfer die Rote Karte. Beim Spiel 10 gegen 10 wird Deutschland immer besser
– auch weil Klinsmann nun sein bestes Länderspiel macht. Er rast mit Hingabe über den Platz und trifft beim 2:1 ebenso wie der Vereinskollege Brehme, dessen Präzision beim Schuss auch im Endspiel den Ausschlag geben sollte.
Nur einmal noch wird er so richtig wild. Das geschieht im Viertelfinale, als die Deutschen in Überzahl und bei einer 1:0-Führung gegen die Tschechoslowakei taktische Todsünden in Form unnötiger Dribblings und überhasteter Abschlüsse begehen. Trotz des Einzugs ins Halbfinale tritt Beckenbauer in der
Kabine gegen Eisbehälter und Trikotkisten und ist überhaupt nicht bremsen. Klinsmann fährt er an: „Was glaubst du, wer du bist – Pelé? Du bist der Klinsmann.“Die Kollegen gehen in Deckung.
Beckenbauers Zorn ist in der Vorschlussrunde längst verraucht. Hier darf seine Elf das Glück beanspruchen, das dem Sprichwort nach der Glückliche hat und das heutige Sportsprach-Artisten immer „Spielglück“nennen. Jedenfalls benötigen die Deutschen nach einem völlig ausgeglichenen Spiel gegen England (1:1) das Elfmeisterschießen. Bodo Illgner, dem nicht gerade der Ruf eines Elfmetertöters anhaftet, wird von Stuart Pierce angeschossen. Und Chris Waddle jagt den Ball übers Tor, die deutschen Schützen Brehme, Matthäus, Karl-Heinz Riedle und Olaf Thon verwandeln sicher. Beckenbauer strahlt wieder.
Und er ist überzeugt: „Uns kann jetzt niemand aufhalten, wir sind die beste Mannschaft.“Diese Mannschaft braucht dennoch viel Geduld im Finale gegen Argentinien, das sich ein wenig ins Endspiel gemogelt hat. Das Schema des Finals: Die Südamerikaner verteidigen mit allem, was sie haben, die Deutschen suchen lange vergeblich nach einer Lücke, ohne die Absicherung nach hinten gegen drohende Konter zu vernachlässigen. So bleibt es spannend und ist zugleich fußballerisch zäh und langweilig, dieses Endspiel.
Erst als Völler eine eher harmlose Attacke im Strafraum dankbar als Vorlage zum Sturzflug annimmt, gibt es die große, die entscheidende Gelegenheit. Schiedsrichter Edgardo Codesal Méndez gibt Elfmeter, und Brehme tritt an. Er erinnert sich: „Völler ist noch zu mir gekommen – so, den machst du jetzt, dann sind wir Weltmeister. Na, schönen Dank, antwortete ich, ich werd’s mir zu Herzen nehmen.“Brehme bleibt trotzdem konzentriert und verwandelt im Duell mit einem echten Experten auf dem Gebiet der Elfmeter, Sergio Goycochea.
Den unterhaltsamen Schlusspunkt dieses Abends setzt wieder der Trainer. Bei der Pressekonferenz nach dem Finale, das sein letztes Spiel als Teamchef ist, sagt er die unsterblichen Sätze: „Wir sind jetzt die Nummer eins in der Welt, wir sind schon lange die Nummer eins in Europa. Jetzt kommen die Spieler aus Ostdeutschland noch dazu. Ich glaube, dass die deutsche Mannschaft über Jahre hinaus nicht zu besiegen sein wird. Es tut mir leid für den Rest der Welt.“
Elf Monate später verliert die DFB-Auswahl, mittlerweile betreut von Berti Vogts, in Wales mit 0:1. Der Rest der Welt hat offenkundig aufgeholt.