Rheinische Post - Geldern an Kevelaer
„Ich schäme mich für unsere Flüchtlingspolitik“
„Stateless“heißt die neue Netflix-Serie, die am Mittwoch startet – mit der Oscarpreisträgerin als Schauspielerin und Drehbuchautorin.
Was war für Sie persönlich das Motiv, um sich mit der australischen Flüchtlingspolitik in einem ambitionierten Filmprojekt auseinander zu setzen?
BLANCHETT Ich habe immer häufiger gespürt, dass mir das Thema Migration sehr nahe geht. Ich hatte schon ein paar Mal mit dem Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen zusammen gearbeitet und wusste, wie viele Migranten erst mal verhaftet werden und wie oft sie unvorstellbares Leid erlebt haben. Also haben wir angefangen, mit diversen Flüchtlingshilfswerken zusammenzuarbeiten, um exemplarische Geschichten zu finden, die Menschen nicht nur berühren würden, sondern auch zum Nachdenken anregen. Was wir dort alles erfahren haben, war herzzerbrechend.
„Stateless“erweitert die politische Dimension um einen existenziellen Gedanken: Was, wenn die Menschen, die durch Grenzen, Flaggen und Pässen getrennt sind, doch tief verbunden sind in ihrer Sehnsucht nach einem Ort, wo sie heimisch werden können?
BLANCHETT Wir wollten einfach zeigen, was Menschen durchmachen müssen, wenn sie ein neues Zuhause suchen. Wir wollten uns nicht nur mit dem Schicksal der Flüchtlinge begnügen, die im Schlauchboot übers Meer fahren, uns hat auch die Perspektive der Bürokraten und Beamten interessiert. Es sind ja auch Menschen, die in diesen Positionen sitzen und Entscheidungen fällen müssen. Außerdem kann jeder von uns unverschuldet in eine Situation kommen, in der man plötzlich diesem System ausgeliefert ist. Wir erzählen beispielsweise auch die unglaubliche Geschichte einer deutsch-australischen Staatsbürgerin, die stellvertretend für uns die Erfahrung macht, wie man behandelt wird, wenn man heimatund schutzlos ist.
Gewährleistet eine Serie für ein komplexes Thema mehr Zeit, um in die Problematik einzutauchen? BLANCHETT So viel mehr Zeit hatten wir für die Produktion der Serie gar nicht, es musste alles sehr schnell gehen, weil das Budget begrenzt war. Aber natürlich stimmt es, dass man die Figuren in einer Serie ganz anders entwickeln kann. Tatsächlich haben wir erst überlegt, ob wir eine Serie daraus machen sollten oder doch lieber einen klassischen Film. Aber nach unseren Recherchen, nach all den tragischen Schicksalen, von denen wir gehört hatten, wurde uns schnell klar, dass wir die einzelnen Storys nicht auf ein paar banale Szenen herunter brechen wollten. Aus Respekt vor diesen Geschichten haben wir zunächst eine vierteilige Serie vorbereitet, die sich dann sogar auf sechs Episoden ausgedehnt hat. Jetzt haben wir das Gefühl, diesen Geschichten besser gerecht geworden zu sein.
Welche Färbung brachte Ihre Kooperation mit dem UN-Flüchtlingswerk UNHCR ein?
BLANCHETT Ich wollte unbedingt nah an der Realität bleiben. Das Thema ist zu wichtig, um es zu verfälschen. Ich wollte nichts übertreiben oder dramatisieren – doch die Erfahrungen, die ich über die UNHCR machte, waren schlimmer als alles, was ein Autor sich einfallen lassen könnte. Die Flüchtlingscamps, die ich besuchte, waren unfassbar schrecklich. Gerade Kinder haben besonders darunter zu leiden. Es ist zermürbender, auf der Suche nach einem Zuhause in einem Flüchtlingslager festzusitzen als in einem Gefängnis. Als Mutter zerreißt es mir das Herz, wenn ich daran denke.
In der Serie gehen Sie vier Schicksalen nach. Ist darunter ein Kind? BLANCHETT Ja, wir zeigen ein junges Mädchen, das in genau so einer Situation steckt. Menschen, die ins Gefängnis müssen, wissen wenigstens, wann sie wieder rauskommen. Aber in diesen Flüchtlingscamps kann dir niemand sagen, wann dieser Alptraum endlich vorbei ist.
Was sagt die Serie über die Gesellschaft aus, in der wir leben? Wo setzt Ihre Kritik an?
BLANCHETT Das Recht auf Asyl ist ein Menschenrecht. Jedem Menschen in Not sollte auch Asyl gewährt werden. Aber die Frage ist, wie wir dieses Recht in der Praxis umsetzen. Ich bin auf so vieles stolz, was Australien
bisher geleistet hat. Aber gerade, was unsere Flüchtlingspolitik betrifft, könnte ich mich in Grund und Boden schämen. Früher gehörte es noch zu unserer Identität, andere Kulturen und Migranten willkommen zu heißen. Wir standen für Pluralismus und Multikulturalität. Und heute? Schotten wir uns ab. Das kann nicht richtig sein.
Würden Sie nur Australien in der Verantwortung sehen?
BLANCHETT Nein, nicht nur Australien hat dieses Problem, überall auf der Welt passieren gerade sehr wesentliche Veränderungen. Xenophobie ist keine Frage des Staates. Alle müssen sich damit auseinandersetzten.
Was ist denn Ihren Erfahrungen nach der Ursprung dieses Problems?
BLANCHETT Angst. Ganz einfach. Die Menschen haben Angst, und diese Angst wird von einigen Regierungen auch noch geschürt. Vor ein paar Tagen habe ich mit einem Kollegen darüber gesprochen. Er sagte, dass es in der Armee die Überzeugung gibt, dass Truppen im Grunde unzufrieden sein müssen, denn zufriedene Menschen lassen sich nicht so gut steuern. Das Gleiche gilt für unsere Gesellschaft: Je unzufriedener die Leute sind, desto leichter lassen sie sich manipulieren.
Sie hatten bei diesem Projekt mindestens zwei Hüte auf, als Darstellerin und Produzentin. Haben Sie außerdem noch mitgespielt, um der Serie mehr „bankability“zu geben, mehr wirtschaftliche Wucht? BLANCHETT Nicht nur. Ich wollte unbedingt mit meinem Kollegen Dominic West spielen. Und einen Jogginganzug aus mint-lavendelfarbener Ballonseide tragen. Dummerweise durfte ich den nicht mit nach Hause nehmen. Ich muss da wohl nochmal mit der Produzentin ein Wörtchen reden. (lacht)