Rheinische Post - Geldern an Kevelaer
Ein Goethe-Abend in Issums Mühle
Andreas Grude rezitierte Werke des Dichterfürsten. 30 Besucher fanden sich in dem alten Bauwerk ein und spendeten viel Beifall. Rund 20 weitere Interessenten waren virtuell zugeschaltet. Das erforderten die Corona-Bedingungen.
ISSUM Durch das Zauberwort „Museum virtuell“erlangt die Herrlichkeitsmühle in Issum neuen Ruhm. Filmemacher Dirk Leiber bescherte mit seiner Idee der „Bildpixelwolkentechnik“bereits dem Freimaurermuseum in Bayreuth erstaunliche Besucherzahlen und wird demnächst Fans aus aller Welt das Essener Weltkulturerbe Zollverein nahebringen. Zusammen mit dem „technikaffinen“Studenten Lukas Groß hat der Pfalzdorfer die neue Internet-Plattform entwickelt, so dass Schauplätze wie das Museum in Kalkar und jetzt auch die Herrlichkeitsmühle im Altbierdorf völlig virenfrei besucht werden können.
Während der Aufzeichnung der rund 20 Filme, in denen der Schriftführer des Fördervereins, Jochen Porbeck, die „Durchfahrmühle“professionell vorstellt, kam dem Team die Konzeptidee, auf ähnliche Weise eine Veranstaltung durchzuführen. Über die Freimaurer wurde der Kontakt zum Essener Künstler Andreas Grude hergestellt, der neben Schiller oder Ringelnatz auch das Programm „Goethe – lieben, leiden, leben!“in seinem Repertoire hat.
Nicht anders als bei Hochzeiten waren in der Mühle 30 Teilnehmer erlaubt, die sich am Samstag von diesem ersten kulturellen Abend nach langer Zeit begeistert zeigten. Von der Resonanz der rund 20 virtuell zugeschalteten Besucher an diesem Abend wurde nichts bekannt.
Das erste Erlebnis dieser Art brachte den Zuschauern die Lebensund Leidenslage Goethes näher. Mit einem Auszug aus „Wilhelm Meisters Wanderjahre“gab der Rezitator auch seine Stimmung preis: „Wie ist heut‘ mir doch zumute? So vergnüglich und so klar!“„Launisch und lebensfroh“überzeugte er das Publikum mit flammenden
Versen und inbrünstigen Sonetten. Analog zu Frauengeschichten oder Reisen skizzierte er Leben und Werk des Dichterfürsten und kam zu der Überzeugung, dass vieles heute noch brauchbar ist, weil die Texte leben und trösten.
„Vom Vater hab‘ ich die Statur, des Lebens ernstes Führen, vom Mütterchen die Frohnatur und Lust zu fabulieren“, lässt Grude Johann Wolfgang von Goethe selbst zu Wort kommen. Dessen lebenslange Liebe zur Natur stellt er im Mailied vor: „Wie herrlich leuchtet mir die Natur! Wie glänzt die Sonne! Wie lacht die Flur!“Die Wartezeit Goethes, als 38-Jähriger das Herz der 22-jährigen
Christiane Vulpius zu erringen, wird im „Morgenklagen“deutlich: „O du loses, leidigliebes Mädchen, sag mir an, womit hab’ ich’s verschuldet, dass du mich auf diese Folter spannest?“
Nicht nur dieses lange Gedicht, auch das Bundeslied, den Erlkönig, die offene Tafel und den Zauberlehrling rezitierte Andreas Grude auswendig. „Ginkgo biloba“ist ein Gedicht über das zweigeteilte Blatt eines Ginkgo-Baumes, das Goethe als 66-Jähriger schrieb und seiner späten Liebe Marianne von Willemer widmete. Die Zuschauer erfuhren von seinem Engagement in Ilmenau und dass er sogar einen
Reim fand auf „Haustürklingel“und „Mädchenbusen“.
„Der Liebhaber guter Tropfen“und Verfasser der „Farbenlehre“mochte keinen Zeitvertreib, er wollte schaffen. „Über allen Gipfeln ist Ruh‘“, Wanderers Nachtlied, schrieb Goethe 1780 mit Bleistift an die Holzwand der Jagdaufseherhütte auf dem Kickelhahn bei Ilmenau. Zum Abschluss brachte Grude „Lynkeus der Türmer“zu Gehör: „Zum Sehen geboren, zum Schauen bestellt, dem Turme geschworen, gefällt mir die Welt.“
Das gefiel auch den Zuschauern, weshalb sie den Künstler mit viel Applaus belohnten.