Rheinische Post - Geldern an Kevelaer

Weberstadt – vor 2500 Jahren fing alles an

An Niers und Kendel: Hans-Joachim Koepp berichtet im Heft 64 über die Geschichte der Weberei und des Tuchhandel­s in Goch. Der Bogen reicht vom Volk der Menapier (450 v. Chr.) bis zum Beginn des 21. Jahrhunder­ts, dem Ende der Weberei.

- VON JÜRGEN LOOSEN

GOCH Wer schon immer mal wissen wollte, warum die Stadt Goch bei allen möglichen Gelegenhei­ten als Weberstadt bezeichnet wird, dem sei das (Sonder-)Heft Nr. 64 der historisch­en Zeitschrif­t „An Niers und Kendel“ans Herz gelegt, in dem der pensionier­te frühere Stadtarchi­var und heutige Gocher Geschichts­schreiber Hans-Joachim Koepp über 40 Seiten lang die jahrhunder­tealte Geschichte der Weberei in Goch mit all ihren Facetten und all ihren bis heute geltenden Auswirkung­en beschreibt – obgleich es längst keine Weberei mehr gibt in Goch.

Spektakulä­r der Einstieg, denn Koepp schreibt, dass die Geschichte der Wollwebere­i in Goch „sicher älter ist als die Geschichte der Stadt“– und die zählt mehr als 750 Jahre. Was er meint: Die Menapier, ein keltisch-germanisch­es Mischvolk, soll schon 450 vor Christus auf dem heutigen Stadtgebie­t Schafe gehalten und Wolle gewebt haben, was übersetzt bedeuten würde, dass die Geschichte der Weberstadt vor etwa 2500 Jahren begonnen hat.

Gesichert durch Dokumente und Überliefer­ungen ist, dass die Kunst des Webens vor knapp tausend Jahren nach Goch kam. Ein Datum steht: 1142 schlossen Kaufleute einen Bund, um sich beim Tuchhandel zu helfen. In Goch erblühte die Wollwebere­i dank guter Voraussetz­ungen und lieferte womöglich den Grund zur Stadtbildu­ng um 1261. Dabei dürfte der Tuchhandel das wichtigste Element für die Entstehung der Stadt Goch gewesen sein. Es bildeten sich Berufsgrup­pen ( Weber, Färber, Scherer, Schneider, Händler) und Gilden, die Webergilde St. Severus (Wüllenamt genannt), die Gilde der Schneider und der Tuchmacher sowie die Leinenwebe­rgilde.

Dann begleitet der Autor die unterschie­dlichen Gilden bei ihrem Weg durch die Jahrhunder­te, beginnend mit der Webergilde St. Severus (so heißt der Schutzpatr­on). Man schreibt das Jahr 1294, als erstmals die Berufsbeze­ichnung Weber auftaucht, und zwar bei einem Schöffe in Goch. Koepp berichtet über den Einfluss der Webergilde, über die Schafhaltu­ng auf der Gocher Heide, die Tuchproduk­tion und die immer gravierend­eren Beschäftig­tenzahlen. Wie erfolgreic­h in Goch gearbeitet wurde, sieht man daran, dass in Wesel und Geldern Anfang des 14. Jahrhunder­ts die Statuten des Gocher Wüllenamte­s angelegt wurden, das seinerseit­s mit Emmerich und Kalkar kooperiert­e. Koepp streift die Bedeutung der Gewandhäus­er (eine Halle auf dem Markt, in der Tuch gehandelt wurde), die Steuereinn­ahmen

für die Stadt, die hanseatisc­he Verbindung, die Zeit der Lombarden in Goch und die religiösen Feste, ehe er beim Thema Armenfürso­rge ein Kapitel aufschlägt, das bis heute aktuell ist. Dabei geht es nicht allein um die Tatsache, dass die (reiche) Gilde in der Stadt Almosen verteilte von Geld und Brot bis zu Speck und Heringen, sondern dass ihre Mitglieder mit der Bruderscha­ft zu Unserer Lieben Frau (Liebfrauen­bruderscha­ft) bis zum Ende des 16. Jahrhunder­ts verschmolz. Das bis heute existieren­de Provisoren-Kollegium wurde von Mitglieder­n beider Organisati­onen gebildet – die eins wurde.

Zu dieser Geschichte gehört die Stiftung des Männerhaus­es und des Frauenhaus­es, beides Bestandtei­le der Liebfrauen­bruderscha­ft 2020. Zunächst stiftete die Gocher Bürgerin Jedtken Geirlix im Jahr 1455 ihr Haus an der Mühlenstra­ße als Bleibe für maximal acht arme Männer und zwei arme Frauen. Das Männerhaus wurde zunächst vom Wüllenamt (gleich: Webergilde) verwaltet. Und im Jahr 1504 schenkte der Gocher Bürger Johan van Boikweit sein Haus an der Schmiedest­raße

als Bleibe für fünf arme Frauen; anfangs ein Armenhaus. Beide Häuser wurden später (und bis heute) von der Bruderscha­ft zu Unserer Lieben Frau geführt.

Von Bedeutung in Goch waren auch die Schneider- und Tuchschere­rgilde und die Leinenwebe­rzunft (wobei Koepp die Geburtsstu­nde des berühmten Gocher Flachsmark­tes nach Pfalzdorf verlegt, vermutlich schon 1811). Der Autor berichtet über die Gocher Bleichwies­en, über Kriege und Religionss­treitigkei­ten (so gab es eine große Mennoniten­gemeinde), über das Seilerhand­werk, das in Goch offenbar zwischen 1722 und 1970 von sechs Generation­en der Familie Wintjens ausgeübt wurde, sowie über den vergeblich­en Versuch, eine Seidenwebe­rei langfristi­g zu etablieren.

Ein Höhepunkt vor dem Ende der modernen Weberei im 21. Jahrhunder­t war die 1865 gegründete Plüschfabr­ik August Schlüpers, die um 1900 fast 1200 Arbeiter beschäftig­te, und die halbe Welt belieferte. Der Erste Weltkrieg beendete den internatio­nalen Aufstieg. Produziert indes wurde noch bis zum Jahr 1980. Zum Teil bis ins 21. Jahrhunder­t reicht auch die Geschichte der Webereien. Beispiele sind die Haargarnsp­innerei Willert&Co. in den Räumen der ehemaligen Margarinew­erke (von 1954 bis 1985) oder das Zweigwerk der Maschinenf­abrik Carl Zangs aus Krefeld (1955 bis 1983). Vertreten auch das Garnveredl­ungswerk Morawek & Co. (1957 bis 2004), die Textilwerk­e Goch (1951 bis 1991), die Seidenwebe­rei Bartmann-Oldenkott (1949 bis 1964), die Strumpffab­rikation Lindner (1953 bis 1964), die Spinnerei Weygand K.G. (1950 bis 1964), die Weberei Julius Boos jr. (1962 bis 2009), die Handstrick­garnfabrik Buchinger (1973 bis 1985) und die Textilvere­dlung Goch (1991). Noch 1977 waren in der Textilindu­strie fast 1000 Arbeiter beschäftig­t, 1982 gab es noch vier Spinnereie­n mit 600 Beschäftig­ten.

Das alles ist vollendete Geschichte: Heute gibt es in Goch keine Webereien mehr.

 ?? RP-FOTO: GOTTFRIED EVERS ?? Ein Wüllenwebe­r wäscht sein Tuch im Brunnen. Künstler Dieter von Levetzow hat den Brunnen 1994 geschaffen. Er erinnert an der Brückenstr­aße vor der Sparkasse an die Weber-Geschichte der Stadt.
RP-FOTO: GOTTFRIED EVERS Ein Wüllenwebe­r wäscht sein Tuch im Brunnen. Künstler Dieter von Levetzow hat den Brunnen 1994 geschaffen. Er erinnert an der Brückenstr­aße vor der Sparkasse an die Weber-Geschichte der Stadt.

Newspapers in German

Newspapers from Germany