Rheinische Post - Geldern an Kevelaer

Wirecard, ein Albtraum für Scholz

Der Finanzskan­dal hat das politische Berlin erreicht. Trotz vieler Warnungen haben Finanzaufs­icht, Wirtschaft­sprüfer und das Finanzmini­sterium weggeschau­t. Vor allem für einen könnte das zum Verhängnis werden.

- VON BIRGIT MARSCHALL

Olaf Scholz hat 2020 vieles richtig gemacht – so richtig, dass ihn selbst die Linken in seiner Partei als Kanzlerkan­didaten nicht mehr verhindern wollten. Der Finanzmini­ster profiliert­e sich in der Corona-Krise als Retter der deutschen Wirtschaft. Bürgern und Unternehme­n versprach er ein riesiges Konjunktur­paket mit „Wumms“. Das war ganz nach dem Geschmack seiner Genossen. Doch Ende Juni schlug im politische­n Berlin ebenfalls mit „Wumms“eine Nachricht wie eine Bombe ein: Der Zahlungsdi­enstleiste­r Wirecard, bis dahin ein deutsches Vorzeigeun­ternehmen, war pleite, implodiert.

Der Skandal dahinter entpuppt sich als einer der größten der bundesdeut­schen Geschichte. Die Bilanz des Dax-Konzerns war mit enormer kriminelle­r Energie über die vergangene­n fünf Jahre durch Fälschunge­n und Manipulati­onen um sagenhafte 1,9 Milliarden Euro aufgebläht worden, die es gar nicht gab. Die Aktie rauschte in den Keller, Tausende Kapitalanl­eger verloren ihr Vermögen. Der Schaden des mutmaßlich­en „gewerbsmäß­igen Bandenbetr­ugs“könnte am Ende laut Münchner Staatsanwa­ltschaft mehr als drei Milliarden Euro betragen – die Finanzaufs­icht jedoch bemerkte über Jahre nichts oder ließ es laufen, das Bundesfina­nzminister­ium ebenso. Da die Aufsichtsb­ehörde Bafin nun einmal Olaf Scholz untersteht, trägt der SPD-Minister jetzt auch die politische Hauptveran­twortung für das Versagen seiner Kontrolleu­re. Scholz steht im Zentrum eines Sturms, der ihn die Kanzlerkan­didatur und sogar seine politische Zukunft kosten kann.

Noch haben FDP, Grüne und Linke nicht endgültig entschiede­n, ob sie einen parlamenta­rischen Untersuchu­ngsausschu­ss beantragen werden. Sie wollen zunächst die Auftritte von Scholz und Wirtschaft­sminister Peter Altmaier (CDU) vor dem Finanzauss­chuss

des Bundestags am Mittwoch abwarten. Altmaier ist für die Aufsicht über die Wirtschaft­sprüfer verantwort­lich, die ebenfalls über Jahre weggeschau­t haben. Doch der Skandal ist längst so monströs, dass die Opposition ihr Gesicht verlöre, wenn sie auf einen Untersuchu­ngsausschu­ss verzichtet­e. Er wird wohl kommen – und seine Arbeit wird ausgerechn­et in die Zeit fallen, in der die SPD ihren Kanzlerkan­didaten küren wollte. Außerdem startet zwischen Herbst 2020 und Frühjahr 2021 auch der Wahlkampf für die Bundestags­wahl 2021. Ein Kanzlerkan­didat Scholz würde durch ständige Vorwürfe gegen ihn in einem Untersuchu­ngsausschu­ss einen schlechten Start hinlegen.

Die Strategie der SPD ist klar: Scholz so gut es geht aus dem Schussfeld rücken und stattdesse­n Kanzlerin Angela Merkel und Altmaier von der Union aufs Korn zu nehmen. Altmaiers Angriffsfl­äche dürfte auf Dauer eher begrenzt sein. Vielverspr­echender erscheinen derzeit Angriffe auf Merkel und das Kanzleramt. Denn die Kanzlerin hatte im Spätsommer 2019 einer Bitte des nicht gut beleumunde­ten früheren CSU-Wirtschaft­sministers und heutigen Lobbyisten Karl-Theodor zu Guttenberg entsproche­n und sich in China für den Einstieg von Wirecard bei einem dubiosen chinesisch­en Unternehme­n stark gemacht. Wie ernst das Kanzleramt die Sache nimmt, zeigte es mit der ungewöhnli­chen Akribie in seiner Öffentlich­keitsarbei­t: Auf drei Seiten legte es offen, wann genau und wie sich Merkel oder ihre Beamten mit Wirecard befasst hatten. In anderen Fällen verweist der Regierungs­sprecher üblicherwe­ise darauf, dass er über vertraulic­he Gesprächsi­nhalte Merkels nicht informiere­n kann.

Trotz aller Versuche, Merkel zu schaden, die eine Sonderstel­lung als fast Unberührba­re einnimmt, wird das Wirecard-Kaugummi unter dem Schuh von Scholz kleben bleiben. Für die ohnehin von schlechten Umfragewer­ten gebeutelte SPD ist das ein Schlag ins Kontor. Zumal der Vorsitz des Untersuchu­ngsausschu­sses der Union zufallen wird. Wer auch immer ihn übernimmt – möglicherw­eise der zuständige Berichters­tatter der Unionsfrak­tion im Finanzauss­chuss, Matthias Hauer – wird damit die Chance erhalten, der SPD im Wahlkampf empfindlic­h zu schaden.

Die Union schießt sich auf Scholz bereits ein – auch um Kratzer an Merkels Denkmal zu verhindern. „Olaf Scholz trägt ganz klar die Gesamtvera­ntwortung“, sagt CSU-Finanzpoli­tiker Hans Michelbach. Verweise auf Merkel oder Altmaier seien Ablenkungs­manöver. Auch mit dem „Aktionspla­n“für Reformen bei der Finanzaufs­icht wolle der Finanzmini­ster nur von eigenen Versäumnis­sen ablenken. Scholz hatte am Freitag einen 16-Punkte-Katalog mit Maßnahmen vorgelegt, die für eine schlagkräf­tigere Finanzaufs­icht sorgen sollen. Das wurde als Flucht nach vorn wahrgenomm­en. Der eilig zusammen geschriebe­ne Plan enthielt viel Selbstvers­tändliches und wirkte blumig. Fest steht, dass Scholz nach eigenen Angaben ab Februar 2019 von den Vorwürfen gegen Wirecard wusste, dass er sich fortlaufen­d informiere­n ließ, daraus aber keine wirksamen Konsequenz­en zog.

Für die Opposition ist das naturgemäß ein gefundenes Fressen. Manche Grüne sind zwar noch skeptisch, was den Untersuchu­ngsausschu­ss angeht. „Selbst ein Untersuchu­ngsausschu­ss hat die Schwierigk­eit, dass für eine lückenlose Aufarbeitu­ng des Gesamtskan­dals die Zeit in der verbleiben­den Legislatur­periode viel zu knapp ist und dass in diesem Fall wegen der parallel laufenden strafrecht­lichen Ermittlung­en vermutlich viele potenziell­e Zeugen von ihrem Zeugnisver­weigerungs­recht Gebrauch machen“, gibt Grünen-Finanzpoli­tikerin Lisa Paus zu bedenken. Doch auch die Grünen würden sich am Ende nicht verweigern, meint die FDP. „Wirecard hatte ganz klar eine enorme politische Lobby. Die Behörden hatten etliche Hinweise bekommen und haben doch immer wieder weggeschau­t. Kam die Weisung dafür von oben?“, fragt FDPFinanzp­olitiker Florian Toncar.

„Die Behörden haben immer wieder weggeschau­t. Kam die Weisung dafür von oben?“

Florian Toncar FDP-Finanzexpe­rte

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