Rheinische Post - Geldern an Kevelaer
Das gute Gewissen der SPD
Hans-Jochen Vogel ist im Alter von 94 Jahren in München gestorben. Der frühere SPD-Vorsitzende, Justizminister, Fraktionschef und Oberbürgermeister nahm bis zuletzt am politischen Leben teil.
BERLIN Politik war sein Leben. Bis zuletzt. Auch im hohen Alter eines über 90-Jährigen verfolgte Hans-Jochen Vogel den politischen Diskurs, auch wenn er ihn nicht mehr prägen konnte. Aber er war weiter nahe am Geschehen, seine Einschätzungen der politischen Lage blieben gefragt, vor allem zur jüngeren Parteiengeschichte. Noch Ende 2019 erschien unter dem Titel „Mehr Gerechtigkeit!“ein Buch von ihm über die Ungerechtigkeiten auf dem Immobilienmarkt. Und vor einem Jahr wandte er sich zusammen mit acht weiteren früheren SPD-Vorsitzenden mit einem Aufruf an die Parteibasis. „Wir sind in sehr großer Sorge um unsere Partei“, hieß es dort. „Die SPD befindet sich in einer ernsten Krise.“
Vogel war 1983 SPD-Kanzlerkandidat, von 1987 bis 1991 Bundesvorsitzender der SPD und für acht Jahre von 1983 bis 1991 auch Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion. Höchster Parteiadel der deutschen Sozialdemokratie. Jetzt ist der Mann, der zu aktiven Zeiten für seine Ordnungsliebe berühmt war und der Klarsichthüllen für schriftliche Unterlagen eine völlig neue Bedeutung gab, im Alter von 94 Jahren in München gestorben.
Vogel war kein Zuchtmeister in der Art Herbert Wehners, dem er an der Fraktionsspitze nachfolgte. Aber er war eine Führungsfigur mit einer klaren Linie, einer allseits verständlichen Sprache und, wenn es sein musste, auch mit einer harten Hand. Die Härte nach innen, die er Genossinnen und Genossen spüren ließ, wenn sie zu ihm gerufen wurden, ließ er nach außen auch den politischen Gegner spüren. Im übersichtlichen Drei-Fraktionen-Parlament
des Bundestags der frühen 80er Jahre, später durch den Einzug der Grünen zum Vier-Fraktionen-Plenum gewachsen, stand Vogel in vorderster Reihe.
Er hat auch später, in der Bundespolitik, nie vergessen, dass die große Politik in den Kommunen umgesetzt werden muss, weil sie sonst nicht bei den Menschen ankommt. Der SPD-Politiker, dessen Bruder Bernhard bei der CDU und dort auch lange Jahre Ministerpräsident in Thüringen war, war Oberbürgermeister von München und hatte seinen Anteil daran, dass die Olympischen Spiele 1972 in die bayerische Landeshauptstadt kamen. Später war er für kurze Zeit auch Regierender Bürgermeister von Berlin. München, Bonn, Berlin – und dann wieder zurück nach München, in seine Heimatstadt, wo er mit seiner Ehefrau Liselotte in den letzten Jahren in einer Seniorenresidenz lebte. Parkinson hatte ihn gezeichnet, machte ihm das Lesen und Schreiben schwer. Aber aufgeben wollte er nicht.
Vogel war immer da, wenn ihn die SPD brauchte. Und die SPD brauchte ihn oft. Nach dem Sturz von Helmut Schmidt 1982 musste jemand für die deutsche Sozialdemokratie in einen nicht sehr aussichtsreichen Kampf gegen den damals noch jungen Bundeskanzler Helmut Kohl. Vogel übernahm die undankbare Aufgabe. Er unterlag Kohl deutlich. Der Pfälzer holte mit 48,8 Prozent das zweitbeste Ergebnis für die Unionsparteien. Die SPD mit Vogel verlor fast fünf Prozentpunkte und fiel auf 38,2 Prozent zurück. Trotzdem dankte ihm die Partei seinen aufopferungsvollen Kampf. 1994 zog sich der gläubige Katholik nach 22 Jahren aus dem Bundestag zurück.
Vogels Wort hatte aber in der SPD weiterhin Gewicht. Wenn der Münchner bei einem SPD-Bundesparteitag