Rheinische Post - Geldern an Kevelaer

Ein Kessel Buntes in Essen

- VON OLIVER BURWIG

Das Unesco-Welterbe der früheren Zeche Zollverein im Nordosten Essens birgt mehrere Museen und ist auch wegen seiner rostigen Industrie-Architektu­r einen Besuch wert.

ESSEN Die Zeche Zollverein ist kein Museum, sie ist eine Stadt. Beeindruck­ende Perspektiv­en bietet schon ein Rundgang durch das weitläufig­e Gelände des Unesco-Weltkultur­erbes mit seinen rotbraunen Backsteinb­auten, dem riesigen Doppelbock-Förderturm und der Kokerei mit ihren symmetrisc­h angeordnet­en, teils fast 100 Meter hohen Schloten. Noch mehr zu entdecken gibt es in den vielen Ausstellun­gsräumen, die derzeit mehrere Sonderauss­tellungen zeigen.

Fiskars-Ausstellun­g im

Red Dot Design Museum

Der finnische Werkzeug- und Gartengerä­teherstell­er Fiskars hat in diesem Jahr die Auszeichnu­ng „Red Dot: Design Team of the Year“und damit auch mehrere Räume für die Ausstellun­g „Onnellisuu­s“erhalten, was auf finnisch „Glück“bedeutet. Besucher erfahren, dass das bekannte Orange der Marke ursprüngli­ch aus Sparsamkei­t in die Produkte gefunden hat: In den 1960ern fielen bei der Produktion von Kaffeetass­en und elektrisch­en Entsaftern größere Mengen des grellen Kunststoff­s als Abfall an, den der Hersteller für Scherengri­ffe zu recyceln wusste. All diese Produkte sind ausgestell­t, auch eine Unzahl an Äxten, Heckenund Astscheren, an deren Modellen sich die interessan­te Produktent­wicklung und der sich über die Jahrzehnte verändernd­e Geschmack der Käufer und Designer abbilden. Die Fiskars-Schau ist im ersten Obergescho­ss des Red-Dot-Museums, ein Rundgang lohnt auch in der Dauerausst­ellung – von Milchpumpe­n bis zum Duschkopf hat dort mit 2000 Exponaten so ziemlich jedes Produkt Einzug gehalten, das einen zweiten Blick wert ist.

Installati­on „La Primavera“im ehemaligen Kesselasch­ebunker Immer freitags wird der von der deutsch-amerikanis­chen Künstlerin Maria Nordman gestaltete Raum „La Primavera“aus dem Kesselasch­ebunker gekurbelt, in den er sich einfügt. Er darf nur einzeln betreten werden, damit sich der gewünschte Effekt einstellt: Der an sich leere Raum, in den nur durch einen – beim Eintreten nicht zu sehenden – Spalt Tageslicht hereinschu­mmert, gibt das Gefühl des Ausgesetzt­seins, der Einsamkeit. Stille und diffuses Licht suggeriere­n einen sichtbaren Nebel, der ein Trugbild der Wahrnehmun­g ist. Das Erlebnis ist sehr individuel­l; es ist erlaubt, sich hinzulegen und in sich und den Raum hineinzuho­rchen.

Fotoschau „Die weite Stadt“im „Portal der Industriek­ultur“

Eine visuelle Reise ins Herz des Ruhrgebiet­s der 70er und 80er Jahre ermögliche­n die Fotografie­n von Heinz Josef Klaßen. Der Essener Gymnasiall­ehrer lichtete seine urbane Umgebung als Vorlagen für Gemälde ab. 2015 entdeckte Klaßen diese 460 Diapositiv­e wieder und ließ ihnen eine Restaurier­ung angedeihen. Im ehemaligen Rundeindic­ker, einem runden Raum, in dessen Mitte konzentris­che weiße Sitzbänke stehen, ist unter dem Titel „Die weite Stadt“eine kleine Auswahl dieser Fotos ausgestell­t.

Die Aufnahmen haben einen dokumentar­ischen Charakter, sie zeigen leere Parkplätze voller Pfützen, herunterge­kommene, bröckelige Hausfassad­en, ein paar gehetzte Fußgänger auf dem Weg von der oder zur Arbeit im tristen, stahlgraue­n Essen. Großaufnah­men wie „Bierautoma­t“aus dem Jahr 1971 wecken Assoziatio­nen klischeeha­fter Arbeiter, die sich auf dem Heimweg eine Flasche ziehen; das Bild „Tankstelle“hingegen ruft mit großen Werbeträge­rn nach Aufbruch und lässt diesen winzigen Teil Essens wie einen Ausschnitt einer US-Großstadt wirken.

„Survivors“-Ausstellun­g im Kokskohlen­bunker

Ein Höhepunkt des Angebots auf dem Zechengelä­nde ist die Ausstellun­g „Survivors“im Bereich der Kokerei, in einem ehemaligen Kokskohlen­bunker. Überlebens­große Porträtauf­nahmen von Martin Schoeller zeigen 75 Holocaust-Überlebend­e des Konzentrat­ionslagers Auschwitz-Birkenau, die er zum 75-Jahr-Jubiläum ihrer Befreiung befragte und fotografie­rte.

Die Wirkung der Bilder ist unmittelba­r. Das Gebäude mit seinen rohen Wänden und hohen Decken, die man durch die Beleuchtun­g kaum erkennen kann, verstärken die beinahe erdrückend­e Last, die den Betrachter fasst, wenn er in einem der quadratisc­hen Ausstellun­gsräume steht. Ringsherum blicken ihn die Überlebend­en mit ernster, aber nicht anklagende­r Miene direkt durch die Linse des Fotografen an. Sie zwingen jeden, sich längst beantworte­t gewähnte Fragen neu zu stellen: Fragen der Schuld, der Verantwort­ung in der heutigen Zeit und nach Ansprüchen an die Gesellscha­ft der Zukunft. Zitate der Porträtier­te unter den Fotos erinnern daran, was war und was wieder sein kann, wenn wir vergessen.

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FOTO: KLASSEN / FOTOARCHIV RUHR-MUSEUM Das Foto „AREG Imbiss“von Heinz Josef Klaßen aus dem Jahr 1974 ist in der Sonderauss­tellung „Die weite Stadt“zu sehen.
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FOTO: RDDM Das Design-Museum zeigt unter anderem Fiskars-Scheren.
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FOTO: JOCHEN TACK / STIFTUNG ZOLLVEREIN Die Gesichter von 75 Holocaust-Überlebend­en blicken von den Wänden einer ehemaligen Mischanlag­e der Kokerei.

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