Rheinische Post - Geldern an Kevelaer
Der vergessene Krieg
Die Situation im Jemen ist katastrophal und eine Lösung der Konflikte nicht in Sicht. Ein Mediziner der Organisation „Ärzte ohne Grenzen“berichtet.
ADEN Die Lage am unteren Ende der arabischen Halbinsel ist katastrophal. Mehr als 100.000 Menschen sind in dem fünf Jahre dauernden Bürgerkrieg ums Leben gekommen, eine Hungersnot jagt die andere, Epidemien greifen um sich. Und das haben alle Akteure zu verantworten. Im Norden wüten die Huthi-Rebellen, im Süden Anhänger der international anerkannten Regierung von Abed Rabbo Mansur Hadi, Separatisten und islamistische Terrororganisationen wie Al-Qaida und der IS. Und als sei das nicht genug, mischen sich auch noch Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate und der Iran in den Konflikt ein. Die USA, die anfangs ebenfalls beteiligt waren, haben sich inzwischen distanziert. Für sie hat sich der Grund ihrer Intervention, die Bekämpfung Al-Qaidas, erledigt. Dass diese gerade wieder eine Renaissance am Golf von Aden erlebt, stört Washington nicht. Und jetzt auch noch Corona.
Tankred Stöbe kommt mit dem Fahrrad zum Treffpunkt mitten in Berlin. Ein Coffee to go an einem Spielplatz. Nach einer Stunde werden die Nasen rot und die Füße kalt. Trotzdem ist er froh, dass man sich sehen kann – mit Abstand. Fünf Wochen lang war der Notfall- und Intensivmediziner im südjemenitischen Aden, versah Dienst im Krankenhaus von „Ärzte ohne Grenzen“(französisch MSF), bummelte Überstunden ab von seiner Klinik an der Berliner Havelhöhe. Sein Beruf muss für Stöbe zur Berufung geworden sein. Nur so ist zu erklären, warum er in diese Hölle ging. Eigentlich sollte der 51-jährige Arzt zum Einsatz gegen Covid-19, doch die Realität holte ihn ein. Er versorgte zumeist Kriegsopfer.
„Im Mai, praktisch aus dem Nichts, ist das Virus in das Land eingefallen und hat dort zu viel Leid und Tod geführt“, erzählt er über die Pandemie im ärmsten Land Arabiens. „Offiziell ist das nie wahrgenommen worden – es gibt im Jemen offiziell nur 2000 Infizierte und 600 Tote, was übrigens die höchste Sterblichkeitsrate
weltweit ist.“Stöbes Organisation MSF hat dann im Mai das erste Krankenhaus für Corona-Patienten im südlichen Jemen eröffnet „und das füllte sich binnen weniger Tage“. Der Jemen sei eines der drei wichtigsten Länder, in denen die Organisation besonders aktiv ist. Seit 2015 herrscht dort Bürgerkrieg und immer wieder gibt es Epidemien. „Vor drei Jahren, als ich schon einmal dort war, mussten wir gegen Cholera kämpfen, jetzt gegen Covid-19.“Unterdessen geht das Kriegsgeschehen weiter. Eine Gesundheitsversorgung, die den Namen verdiene, gebe es praktisch nicht mehr. Über die Hälfte der Krankenhäuser sei zerbombt. „Diese tödliche Kombination zwischen erhöhtem Bedarf an medizinischer Versorgung und gezielter Zerstörung der Einrichtungen sehen wir ja in vielen Kriegsund Krisengebieten, aber im Jemen ist es extrem.“
Die Teams von „Ärzte ohne Grenzen“arbeiten dort in zwölf Krankenhäusern und Kliniken und unterstützen 20 Gesundheitseinrichtungen in 13 Provinzen des Landes. Im April 2019 konnte die Arbeit im chirurgischen Krankenhaus in Aden wieder aufgenommen werden – dort war Stöbe jetzt. Mit 100 Betten ist es eine der größeren Einrichtungen, die MSF im Jemen betreibt. Aus Sicherheitsgründen blieb der Berliner während seines Einsatzes ausschließlich im Krankenhaus. Es sei zu gefährlich, die Klinik zu verlassen. Man wisse nie, ob man in einen Schusswechsel gerate oder ob eine Bombe hochgeht. Zivilisten würden immer wieder in diesen Konflikt mit hineingezogen. Vor allem für Frauen sei dies ein extrem tödlicher Konflikt. Während es in Aden selbst gerade verhältnismäßig ruhig sei, verlaufe die Frontlinie nur etwa 50 Kilometer nördlich der Stadt. Die verändere sich auch ständig, sagt Stöbe, mache die Lage unberechenbar. „Wir haben in unserem Krankenhaus immer wieder Verletzte, die von der Frontlinie zu uns gebracht werden.“Der Krieg sei für die Helfer jeden Tag präsent. „Für die Weltöffentlichkeit aber ist es ein vergessener Krieg.“
Die meisten der Mitarbeiter im Krankenhaus in Aden sind Jemeniten, die von MSF bezahlt werden. Außer dem Krankenhaus der Organisation gibt es noch zwei staatliche Krankenhäuser, die aber wegen der Pandemie geschlossen waren, die privaten Kliniken können sich die meisten Menschen nicht leisten. Aden ist die viertgrößte Stadt im Jemen
mit knapp 600.000 Einwohnern.
Von 1967 bis 1990 war sie die Hauptstadt der Demokratischen Volksrepublik Jemen. Am 21. März 2015 wurde Aden von Präsident Abed Rabbo Mansur Hadi zur Interimshauptstadt des Jemen erklärt, da die Hauptstadt Sanaa von Huthi-Rebellen besetzt wurde. Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate griffen in den Bürgerkrieg ein, Al-Qaida und der IS sind ebenfalls im Süden aktiv.
Separatisten hatten im April in der strategisch wichtigen Hafenstadt die Autonomie ausgerufen und eine eigene Regierung eingerichtet. Zunächst strebten sie eine weitreichende Selbstverwaltung an. Ihr Ziel aber ist es, im Südjemen einen eigenen Staat zu bekommen, so wie es vor der Vereinigung im Jahr 1990 war. „Allerdings dieses Mal ohne Sozialismus“, sagt Abdulfattah Qasim am Telefon, der seit zehn Jahren in Deutschland lebt, dort studiert hat und sich von der Idee eines freien, unabhängigen Südjemen anstecken ließ. Er ist Vertreter des Büros des südlichen Übergangsrats (STC), das für die gesamte EU zuständig ist. „Lieber ein Volk in zwei Staaten, als zwei Völker in einem Staat“, ist sein Leitspruch.
Doch Saudi-Arabien machte der Unabhängigkeitsbewegung einen Strich durch die Rechnung. Die ungebetene Schutzmacht stellte sich damit gegen ihre Bündnispartner aus den Vereinigten Arabischen Emiraten, die die Separatisten unterstützt, und drängte sie zur Aufgabe ihrer Pläne – vorerst, wie es heißt. Die Separatisten zogen nach wenigen Wochen ihr Ansinnen zurück. Eine gemeinsame Regierung solle gebildet werden, von Anhängern Hadis und den Separatisten, wobei letztere die Kontrolle über Aden erhalten sollten. Dies sollte binnen 30 Tagen geschehen, so wurde es Ende Juli verkündet. Passiert ist bislang nichts.
Unterdessen zerfällt das Land immer mehr. „Die Lage im Jemen ist so katastrophal, dass man noch nicht einmal sagen kann, wie viele Menschen in den letzten fünf Jahren seit Anfang des Bürgerkrieges ums Leben gekommen sind“, erklärt Stöbe seinen neuerlichen Aufenthalt dort. Der Konflikt werde immer komplexer. Die Lage sei so unübersichtlich, dass man kaum noch wisse, wer wo das Sagen habe. Interessen für das Land, für die Zukunft der Jemeniten seien nicht mehr erkennbar. „Je länger ein Konflikt nicht gelöst wird, desto schwieriger wird es, eine Lösung zu finden.“