Rheinische Post - Geldern an Kevelaer
Erste Hilfe für die Innenstädte
Geschäftsleute und Stadtväter in NRW verzweifeln wegen der Verödung der Zentren. Der Lockdown tut sein Übriges. Bauministerin Ina Scharrenbach mahnt zum gemeinsamen Handeln. Einfache Lösungen sind jedoch nicht in Sicht.
DÜSSELDORF Der Mann bringt die Sicht des Handels auf den Punkt: „Die staatlichen Corona-Hilfen für den Einzelhandel waren im vergangenen Jahr meist nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Das reicht in der Regel nicht einmal für die Mietzahlungen in den Lockdown-Monaten“, erklärte Stefan Genth, Hauptgeschäftsführer des Handelsverbandes Deutschland, am Dienstag. Die Gefahr, die diese Entwicklung mit sich bringt, liegt auf der Hand: Geschäftsleute werden wegen der Pandemie aufgeben. Die Kausalkette ist klar: Leerstand in den Fußgängerzonen, dadurch unattraktive Zentren, die für Besucher ihren Reiz verlieren.
Aus diesem Grund hatte NRW-Bauministerin Ina Scharrenbach am Dienstag zum Innenstadt-Gipfel geladen. Bei der Online-Konferenz verabredeten die Teilnehmer sich darauf, in maximal vier Wochen für den „Zukunftsraum Innenstadt“konkrete Verbesserungsvorschläge zu machen, um den Handelsunternehmen und ihren Beschäftigten eine Perspektive zu geben. Der Wandel sei auch schon vor Corona da gewesen, so Scharrenbach. „Von 2010 bis 2018 sind 6500 Geschäfte verloren gegangen – sowohl in den Großstädten als auch im ländlichen Raum.“Für das Projekt Zukunftsraum sagte NRW-Finanzminister Lutz Lienenkämper (CDU) Mittel aus dem Corona-Rettungsschirm des Landes zu. In welcher Größenordnung diese sich bewegten, ließ er zunächst offen.
Jutta Kruft-Lohrengel, Präsidentin der Industrie- und Handelskammer (IHK) Essen, sagte, wer jetzt durch geschlossene Innenstädte gehe, bekomme eine Vorstellung davon, was ohne Gegensteuern passiere: „Das sind Bilder wie aus einem schlechten Science-Fiction-Film.“
Vertreter von Handel und Gastronomie kritisierten die schleppende Auszahlung von Hilfen. „Wir sind jetzt drei Monate im harten Lockdown, und es geht immer noch darum, die Novemberhilfen ausgezahlt zu bekommen“, kritisierte Kurt Wehner, Landesgeschäftsführer des Hotelund Gaststättenverbands NRW. „Jeder dritte bis vierte Betrieb beschäftigt sich mit dem Thema Insolvenz. Da reden wir in NRW von 43.000 Gaststätten, 6500 Beherbergungsbetrieben und 400.000 Arbeitsplätzen, die vor dem Aus stehen.“Scharrenbach erklärte, die Bereitstellung von Liquidität habe Priorität Nummer eins. Auf lange Sicht sagte sie zu, Abweichungen vom Bauordnungsrecht einfacher möglich zu machen und sich beim Bund für Erleichterungen im Bauplanungsrecht einzusetzen. Es müsse unter dem Strich einfacher werden, Wohn- zu Gewerbeflächen umzuwandeln und umgekehrt.
Digitalminister Andreas Pinkwart (FDP) regte an, mit Händlern und Städten einen „Hackathon“zu veranstalten, um mit Digitalexperten und jungen Menschen darüber nachzudenken, wie die Innenstadt der Zukunft aussehen könnte. „Wir müssen die jungen Menschen in die Innenstädte bekommen, dann folgen die junggebliebenen automatisch“, sagte er. Die dort erarbeiteten Punkte sollen in die Innenstadtoffensive einfließen. Finanzminister Lienenkämper zeigte zudem grundsätzliche Bereitschaft, das Soforthilfeprogramm für die Innenstädte in Höhe von 70 Millionen Euro fortzusetzen und zu erhöhen, wenn es ausgeschöpft sei. Noch seien jedoch nicht alle Mittel abgerufen worden.
Was aus dem Zukunftsraum am Ende werden könnte, skizziert beispielhaft der Neusser Bürgermeister Reiner Breuer (SPD). Er sieht eine „Neugestaltung wesentlicher Teile der Innenstadt“, die angegangen werden müsse. Als verbesserungswürdig gilt vor allem die Aufenthaltsqualität – also das, was die Menschen dazu bewegt, in der Stadt zu verweilen.
Etwa die Gastronomie: In Neuss arbeitet an der Lösung des Innenstadt-Dilemmas ein neuer Beirat, der auch IHK und Gewerkschaften einbindet. Um neue „urbane Räume“entstehen zu lassen, soll eine Durchfahrtsstraße der City autofrei werden. Eine gute Idee – aber auch ein schmaler Grat, weil so etwas leicht zulasten der Erreichbarkeit geht, wie in Neuss das Beispiel McDonald’s zeigt. Der Burger-Brater hat nach über 40 Jahren eine seine Fast-Food-Fillialen geschlossen, weil kein Drive-in möglich ist.
Durchzusetzen scheint sich die Erkenntnis, dass eine moderne, attraktive Innenstadt eine Mixtur aus Handel, Gastronomie und Wohnen braucht. „Wir haben einen Mangel an Wohnraum in Innenstädten. Lieber eine schöne Wohnstadt als eine hässliche Einkaufsstadt“, sagt etwa der Mönchengladbacher Handelsprofessor Gerrit Heinemann. Die Städte könnten das Leerstands-problem nicht einfach durch Weitervermietung lösen, „denn der Kuchen ist kleiner geworden“. Wenn eine Stadt Einkaufsstadt sein wolle, sei sie gut beraten, das Geschehen möglichst auf einer Haupteinkaufsstraße zu konzentrieren. Und: „Wir müssen Fußgängerzonen wieder befahrbar für Autos machen“, fordert Heinemann. Was Autofahrer womöglich begrüßen würden. Aber man ahnt zugleich schon, wie dieser Gedanke so manchem Lokalpolitiker die Zornesröte im Gesicht treibt.